Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

172 I. Geschichtl. Entwickelung des staatl. Rechtszustandes in Deutschland. 
schen Bunde umfassen sollten. Damit war dieser aber selbst noch 
nicht ins Leben getreten; die vertragschliessenden Staaten hatten 
nur wechselseitig die Verpflichtung übernommen, die nöthigen 
Schritte zu thun, um einen solchen Bund, nach Massgabe der Ver- 
träge, ins Leben zu rufen. Die vertragschliessenden Theile waren 
die vier süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und 
Hessen und der norddeutsche Bund, nicht die norddeutschen 
Bundesstaaten. Dieser trat als ein einheitliches staatsrechtliches 
Subjekt den bis dahin völlig souveränen süddeutschen Staaten 
gegenüber. Der norddeutsche Bund beabsichtigte nicht etwa sich 
aufzulösen und ein ganz neues Staatswesen zu gründen, sondern 
sich durch Aufnahme der süddeutschen Staaten zu erweitern. 
Der neue deutsche Bund sollte der ın seinen Grenzen erweiterte, in 
seiner Verfassung modificirte norddeutsche Bund sein. Es war 
nicht, wie im Jahre 1867, ein staatsrechtlicher Neubau, welcher 
auf den Trümmern des völlig beseitigten alten deutschen Bundes 
erfolgte, sondern nur der weitere Ausbau eines schon fertigen 
Hauses, in welchem für neue Bewohner neue Räume geschaffen 
wurden. Es kann kein Zweifel an der Rechtskontinuität des nord- 
deutschen Bundes und des beabsichtigten neuen deutschen Bundes 
erhoben werden. Beide sind dasselbe Rechtssubjekt. 
Aber die Regierungen des norddeutschen Bundes und der vier 
süddeutschen Staaten waren nicht ım Stande, den beabsichtigten 
deutschen Bund ohne Zustimmung der Volksvertretungen ins Leben 
zu rufen. Durch den Eintritt der süddeutschen Staaten wurde die 
norddeutsche Bundesverfassung ebenso wesentlich verändert, wie 
die Konstitutionen der süddeutschen Staaten. Zu solchen Ver- 
fassungsänderungen mussten die Volksvertretungen ihre verfassungs- 
mässige Zustimmung ertheilen; aber nach dem oben erörterten 
staatsrechtlichen Prinzip nur der Reichstag des norddeutschen Bun- 
des und die Landtage der vier süddeutschen Staaten, nicht etwa die 
Landtage der norddeutschen Einzelstaaten. Das stellvertretende 
Organ des norddeutschen Volkes war lediglich sein Reichstag und 
auf diese Weise wurde verfahren. 
$ 77. 
Staatsrechtliche Perfektion des neuen deutschen Reiches. 
Durch Verordnung vom 12. November 1870 wurde der nord- 
deutsche Reichstag zu einer ausserordentlichen Sitzung auf den 
24. November 1870 einberufen. Mittlerweile waren nıcht nur die 
Verträge mit den süddeutschen Regierungen abgeschlossen, son-
	        
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