Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

960 I. Das Landesstaatsrecht. 
Nachdem den deutschen Landesherrn gelungen war, die An- 
wendung des lehensherrlichen Angefälles (Kraut B. II. S. 175) 
auf ihre reichslehenbaren Territorien zu beseitigen, kam der alte 
deutschrechtliche Grundsatz zur allgemeinen Geltung, dass der 
nächste Schwertmagen oder Agnat, ebenso wie bei Privatvormund- 
schaften, auch in Beziehung auf die Landesregierung der gebo- 
rene Vormund sei. Dieser Grundsatz wurde durch die Goldene 
Bulle VII. $ 4 für die minderjährigen Kurfürsten reichs- 
grundgesetzlich bestätigt: 
»Sı principem electorem seu ejus primogenitum aut filium se- 
niorem laicum mori et heredes masculos legitimos laicos, defectum 
aetatis patientes relinquere contingeret, tunc frater senior ejusdem 
primogeniti tutor eorum et administrator existat«!. 
In den andern reichsständischen Häusern brachte es aber die 
freilich völlig ungerechtfertigte Anwendung des römischen Privat- 
rechts dahin, dass dieser altdeutsche Grundsatz immer mehr erschüt- 
tert wurde, indem man die Mutter bez. väterliche Grossmutter als 
gesetzliche Vormünderin zuliess?, ja ihnen selbst den Vorzug vor 
den Agnaten einräumte, was freilich von diesen wieder bestritten 
wurde. Auch fasste man die altdeutsche Agnatentutel von Seiten 
der Juristen lediglich als eine tutela legitima des römischen Rechtes 
auf, welche der tutela testamentaria zu weichen habe. 
So entstand in einzelnen reichsständischen Familien eine grosse 
Ungewissheit, welche zu heillosen Streitigkeiten führte. Es war da- 
her dringendes Bedürfniss, im neueren Staatsrechte (die Berufung zur 
Regentschaft verfassungsmässig zu ordnen, wie dies jetzt in fast allen 
deutsch-monarchischen Staaten geschehen ist. Am meisten entspricht 
es dem historischen Rechte, wie dem Wesen der Erbmonarchie, 
! Die goldene Bulle beruft allerdings ihrem Wortlaut nach nur den Va- 
tersbruder, nie aber hat man daran gezweifelt, dass, wenn kein Oheim von 
väterlicher Seite vorhanden, dasselbe von jedem nächsten Agnaten gelte, wie 
sich dies auch aus einer alten Uebersetzung der goldenen Bulle und den Special- 
bullen für Sachsen 1376 und Kurpfalz 1414 ergiebt. 
? Ausser den Kurhäusern gab es in späterer Zeit wenige regierende reichs- 
ständische Familien, wo nicht die gesetzliche Vormundschaft der Mutter und der 
väterlichen Grossmutter anerkannt gewesen wäre. Moser B. XVIII. cap. 90. 
$3.4. In Betreff der testamentarischen Vormundschaft sagt Moser B. XVIIl. 
S. 154: »Ich halte davor, dass solange keine lex fundamentalis dagegen ist (wie 
bei den Kurhäusern! solange hat die tutela testamentaria statt... . das unläug- 
bare Herkommen ist pro tutela testamentaria«. S. 204: »So steht meines Erach- 
tens ex hoc capite fest, dass in dubio pro tutela testamentaria contra agnaticam 
zu sprechen seic.
	        
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