356 l. Das Landesstaatsrecht.
Die Treuverpflichtung des Staatsangehörigen hat aber auch ihre
positive Seite, indemerdurch persönliche Dienstleistungen für den
Bestandunddie Wohlfahrt des Staates einzutreten, ja im Nothfall seı-
nem Vaterlande selbst sein Leben zum Opfer zu bringen hat. Dies
zeigt sich besonders in der Verpflichtung zum Kriegsdienste. Wäh-
rend Ausländer nach den Grundsätzen des Völkerrechts überall vom
Kriegsdienste befreit sind, ja ein Zwang des Ausländers zum Kriegs-
dienst als cine Verletzung des Völkerrechts erscheinen würde, stellt
jetzt gerade in der allgemeinen Wehrpflicht die Treuverpflichtung
ihre höchste Anforderung an alle waffenfähigen Staatsangehörigen.
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Gehorsamspflicht!.
Der mit dem Begriffe der Gesammtpersönlichkeit des Staates
gegebene Gesammtwille hat nur dann Realität, wenn sich ıhm
alle Einzelwillen der Staatsgenossen, innerhalb der staatlichen
Sphäre unterordnen. Jeder Staat, mag seine Verfassungsform sein,
welche sie will, setzt die Rechtspflicht des Gehorsams als selbst-
verständlichen Grundsatz voraus. Dem Rechte des Staates auf Be-
herrschung entspricht die Pflicht der Unterthanen zum Gchorsam.
Gehorsam ist nicht nur »die erste Bürgerpflicht«, sondern diejenige,
in welcher alle andern speciellen Verpflichtungen; wie in ihrer Wur-
zel, enthalten sind. In einem Bundesstaate besteht die Gehorsams-
pflicht sowohl gegen die Centralgewalt, wie gegen die Staatsgewalt
des betreffenden Einzelstaates.
Nach unserer modernen christlich-germanischen Auffassung
kann aber dieser (lem Staate geschuldete Gehorsam niemals ein un-
bedingter, sklavischer oder blinder sein, und zwar in keiner Staats-
form. Er ist vielmehr begrenzt durch die Sphäre des Staates
! Die Literatur, besonders die englische, über den verfassungsmässigen
Gehorsam ist mitgetheilt und kritisch beurtheilt von R. von Mohl in der Ge-
schichte der Literatur der Staatsw. B. I. S. 320—331. Für das deutsche und all-
gemeine Staatsrecht vergl. besonders Zachariä, Deutsches Staatsr. B. 1. $ 91.
472. Zöpfl, Grunds. B. II. $ 282. 8.3. Grotefend, 8. 408. Bluntschli,
B.II. B. XII. Kap. 10. Stahl, B.II. Abth. II. $ 150—155. 8.514. L.v. Stein,
Verwaltungslehre I. $S. 330. G. Meyer, $ 224. 8.554. v. Mohl, Württemb.
Staatsrecht B. I. $ 69. S. 323. Pözl, Bayr. Verfassungsrecht $ 36. v. Rönne,
a.a. 0.8103. Bluntschli, Art. im Staatsw. B. IV. 8.$1—93. H. A. Zacha-
riä, Art. im Staatslex. /III. Aufl.) »Gehorsam u. Widerstand« B. VI. 8. 209—224.
A. L. Reyscher’s public. Versuche $, 254 ff. Ueber England vergl. besonders
Gneist, Verwaltungsrecht (II. Aufl., B. II. $ 49. 8. 701 ff. »Der Grundsatz des
verfassungsmässigen Gehorsams«.