Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

3. Von den Staatsangehörigen. 394 
selbst, welcher mit seinen Geboten in die höhere Sphäre der Moral, 
der Religion, derWissenschaft nicht eingreifen darf ($ 17 8.27.Meıne 
Einl. $518.163. Stahl, B. II. Abth. I.S.529,. Essindimmerhin aus 
solchen höheren Gründen Fälle denkbar, wo es zur Gewissenspflicht 
les Bürgers wird, der Staatsgewalt den Gehorsam zu verweigern, was 
freilich meist aufseinc eigene Gefahr hin geschehen wird. Abgesehen 
von diesen allgemeinen sittlichen Grenzen des bürgerlichen Gehor- 
sams zieht der konstitutionelle Staat durch Verfassung und Gesetz 
auch ganz besondere positivrechtliche Schranken. Daher kann ın 
einem solchen Staate nur von verfassungsmässigem und ge- 
setzlichem Gehorsam die Rede sein. Auch schon zu Reichszeiten 
war in Deutschland nur verfassungsmässiger Gehorsam Rech- 
tens. Die Reichsstände schuldeten dem Kaiser reichsverfassungs- 
mässigen, die Unterthanen dem Landesherrn landesverfassungsmäs- 
sigen Gehorsam. Diesen Grundsatz des älteren deutschen Staatsrechts 
erkennen auch alle neueren V erfassungsurkunden als selbstverständ- 
lich an. Ueber den allgemeinen Grundsatz herrscht in der 
Theorie kein Streit. Die Meinungen gehen erst da auseinander, 
wo es sich um Beantwortung der praktischen Frage handelt, wie 
sich der Einzelne ungesetzlichen Befehlen der Obrigkeit und ihrer 
Organe gegenüber zu verhalten habe? Indem die Obrigkeit ihrer- 
seits ihre Massregeln und Vorschriften aufrecht zu erhalten und den 
Widerstand der Einzelnen gegen ihre Organe durch, Strafverbote 
zu brechen versucht, greift diese Lehre in das Kriminalrecht 
hinüber und muss aus dem geltenden Strafgesetzbuche die Ent- 
scheiduüng der einschlagenden Fragen entnommen werden. Soviel 
steht fest, dass der einfache Ungehorsam, die blosse Nicht- 
befolgung obrigkeitlicher Befehle an sich niemals strafbar ist. Der 
Nichtgehorchende setzt sich in einem solchen Falle nur der Execu- 
tion, dem Civilzwang, Geldbussen aus, welche nicht als Strafmittel 
gelten können. Strafbar ist dagegen bereits nach $ 110 des deutschen 
Strafgesetzbuchs: »wer Öffentlich vor einer Menschenmenge oder 
wer durch Verbreitung oder öffentlichen Anschlag oder öffentliche 
Ausstellung von Schriften oder andern Darstellungen zum Unge- 
horsam gegen Gesetze oder rechtsgiltige Verordnungen oder 
gegen die von der Obrigkeit innerhalb ihrer Zuständigkeit 
getroffenen Anordnungen auffordert.« Besonders bedeutsam für vor- 
liegende Frage ist aber $ 113 des Strafgesetzbuchs: »Wer einem 
Beamten, welcher zur Vollstreckung von Gesetzen, von Befehlen 
und Anordnungen von Verwaltungsbehörden oder von Urtheilen 
H. Schulze, Deutsches Staatsrecht. 24
	        
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