2. Die Staatsgewalt. 97
nicht umkehren und verwirren darf, ohne Unrecht zu thun; so darf
er die Freiheit der Wissenschaft, des Glaubens, die ewigen Grund-
sätze des Sittengesetzes nicht antasten. 'Thut der Staat es aber den-
noch, so giebt es über der Gesetzgebung des Staates freilich keine
höhere Instanz, welche ein solches materielles Unrecht auch formell
dafür erklären, ein solches Gesetz ausser Kraft setzen könnte, aber
dem Betheiligten gegenüber erscheint ein solcher Akt der Staats-
gewalt, trotz seiner formellen Korrektheit, als unverbindlich.
Der Betheiligte kann und muss in einem solchen Falle, freilich auf
die Gefahr hin Märtyrer seiner Ueberzeugung zu werden, der ihre
Sphäre überschreitenden Staatsgewalt den Gehorsam verweigern
und gegen das Unrecht protestiren. Das Wort: »Man soll Gott
mehr gehorchen, als den Menschen« bleibt trotz alles Missbrauchs,
welchen man in unseren Tagen damit getrieben, eine ewige Wahr-
heit. Es ist eine gefährliche Ueberspannung der Staatsidee, wenn
man die Staatsgewalt nicht nur als die oberste, sondern auch als die
absolute Macht auf Erden ansieht, welche schlechthin, auch ma-
teriell, kein Unrecht thun kann, welche der einzige Regulator aller
menschlichen Verhältnisse sein soll. Wo der Staat solche sittliche
und natürliche Schranken nicht anerkennt, wo er jede Ueberschrei-
tung des rechtlichen Umkreises der Staatsgewalt für erlaubt hält,
ist Staatsabsolutismus vorhanden, welcher wohl zu unter-
scheiden ist vom Fürstenabsolutismus, denn auch ein konsti-
tutionelles Parlament, ja eine demokratische Volksversammlung
kann dieser gefährlichen Richtung ebenso verfallen, wie ein Allein-
herrscher. Es ist bezeichnend genug, dass zwei so diametral ent-
gegengesetzte Geister, wie Hobbes, der Vorkämpfer despotischer
Willkür, und Rousseau, der publicistische Prophet der franzö-
sischen Revolution, gerade in dieser Richtung völlig übereinstim-
men. Hobbes’ »imperium absolutum« und Rousseau’s »volonte
generale« proklamiren gleichmässig den schrankenlosen Staatsabso-
lutismus. Ausser diesen sittlich-natürlichen Schranken, welche
durch das Wesen des Staates und der Staatsgewalt selbst gezogen
sind, giebt es noch geschichtlich gewordene, positiv-rechtliche
Schranken, welche nur in gewissen Staaten, unter bestimmten Ver-
fassungsformen gelten. In den konstitutionellen Staaten sind die-
selben zum Theil zu Sätzen der Verfassungsurkunde geworden
und ziehen, gegenüber der Rechtssphäre der Staatsbürger, bestimmte
Schranken, in welche die Staatsgewalt nicht eingreifen darf; es sind
dies die sog. Grundrechte oder Volksrechte. Als Theile der Ver-