Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

496 I. Das Landesstaatsrecht. 
liche geschlossene und regierungsfähige Mehrheit vorhanden ist, 
kurz dass die Bedingungen des sog. parlamentarischen Re- 
gimentes vorhanden sind, welche auf dem Kontinente so vielfach 
fehlen. Auch kann der Monarch einen Ministerwechsel vermeiden 
wollen, weil er persönlich mit seinem Ministerium einverstanden 
ist und in der Haltung der Kammern nicht den Ausdruck einer ge- 
sunden öffentlichen Meinung, sondern der Verblendung und der 
persönlichen Leidenschaft zu erblicken glaubt. In solchen Fällen 
ist das zweite Mittel, die Auflösung der oppositionellen 
Kammer, anseinem Platze. Indem der Monarch allen gewähl- 
ten Volksvertretern ihre Eigenschaft entzieht und neue Wahlen 
anordnet, wendet er sich an die Gresammtheit der Bürger und for- 
dert dieselbe auf, sich darüber auszusprechen, ob die vom Landtage 
eingenommene Haltung wirklich der öffentlichen Meinung des 
Volkes entspricht oder nur das Erzeugniss des Parteigeistes ist. 
Gewöhnlich ist es eine grosse, unmittelbar praktische Frage, zu wel- 
cher sich der Zwiespalt zwischen Ministerium und Volksvertretung 
zuspitzt. Dennoch darf die Auflösung nicht als eine »appellatio 
principis ad populum « betrachtet und bezeichnet werden; das wäre 
sie nur dann, wenn die endgültige Entscheidung dadurch in die 
Hand der Wähler gelegt und diese somit zu einer höhern Instanz 
über die Staatsregierung erhoben würden. Die Auflösung ist nichts 
als ein Versuch, die gestörte Einigkeit zwischen Regierung und 
Volksvertretung wieder herzustellen, dessen Erfolg ebenso von dem 
Ausfalle der Wahlen, wie von dem Willen der Krone abhängig ist, 
denn, auch neuen oppositionellen und gleichen Beschlüssen der neu- 
gewählten Kammer gegenüber, liegt staatsrechtlich kein zwin- 
gendes Moment für die Krone vor, das missliebige Ministerium zu 
entlassen und dessen Regierungssystem aufzugeben. Daher kann die 
Auflösung auch erfolglos bleiben, ja zur Lahmlegung des ganzen 
konstitutionellen Prineips gemissbraucht werden. Ein solcher mög- 
licher Missbrauch nimmt aber diesem Mittel seinen Werth nicht, 
welches, im unparteiischen, ächt konstitutionellen Sinne gehand- 
habt, unter Umständen dazu beitragen kann, den gestörten inneren 
Frieden zwischen den staatlichen Organen wieder herzustellen. 
Aus diesem Grunde gewähren alle deutschen Ver- 
fassungen dem Monarchen das Recht, die Kammern 
aufzulösen. Von der Auflösung werden aber selbstverständlich 
nur die gewählten Mitglieder getroffen. Eine Auflösung der 
ersten Kammer ist da unmöglich, wo diese aus lauter erblichen oder
	        
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