Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

516 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus. 
von welcher es ausgeht. Das Gesetz ist aber nicht die einzige Art 
der Rechtserzeugung. Ihm gegenüber steht das Gewohnheits- 
recht, welches auf keinem reflektirten Willensakte, sondern auf 
dem Bewusstsein von der Rechtsverbindlichkeit einer thatsächlich 
bestehenden Uebung beruht (S. 8). Nur von einer übergeordneten, 
obrigkeitlichen Gewalt können Gesetze ausgehen. Darum bestehen 
ausserhalb der Staatsverbindung keine Gesetze. Das Völkerrecht 
kennt keine gesetzlichen Normen. Dagegen haben die kleineren, 
im Staate bestehenden Organismen eine dem Gesetze verwandte 
Rechtsquelle in der Autonomie, welche ebenfalls absichtlich 
Rechtssätze feststellt von bindender Kıaft für alle Glieder des 
engeren Verbandes (S. 9). Ihre Rechtsverbindlichkeit beruht in 
dem organischen Charakter des Verbandes, welcher innerhalb seiner 
Sphäre alle seine Glieder beherrscht. Während der unentwickelte 
Staatsbegriff des Mittelalters ein Gesetzgebungsrecht, jus statuendi, 
auch der kleineren Kreise, der Gemeinden, Landschaften und son- 
stiger Korporationen in weitgehender Weise zuliess, nimmt der 
seiner selbst bewusst gewordene Staat der Gegenwart das Recht der 
Gesetzgebung ausschliesslich für sich in Anspruch. Im modernen 
Staate ist zwar die Autonomie dieser kleinen Kreise nicht beseitigt; 
sie erhält in neuerer Zeit sogar wieder mehr die ihr gebührende 
Anerkennung, aber sie darf sich nur auf die inneren Verfassungs- 
verhältnisse des Verbandes erstrecken, sich nur innerhalb des Rah- 
mens der Gesetze bewegen und bedarf regelmässig der staatlichen 
Genehmigung. Diese Erzeugnisse der Autonomie sind aber nach 
der heutigen Staatsauffassung keine Gesetze ım staatstechtlichen 
Sinne. Dagegen haben die deutschen Einzelstaaten noch heut zu 
Tage eine eigentliche gesetzgebende Gewalt, nicht bloss die Befug- 
niss der Autonomie. Wenn die Landesgesetzgebung auch in der 
Reichsgesetzgebung ihre Schranken findet, so ist sie doch innerhalb 
der ihr belassenen Sphäre selbständig, und ihre legislativen Erzeug- 
nisse sind nicht an die Genehmigung der Reichsgewalt gebunden. 
Gerade in dieser fortdauernden gesetzgeberischen Befugniss zeigt 
sich der staatliche Charakter der deutschen Einzel- 
staaten, durch welchen sie sich von blossen Körpern der Selbst- 
verwaltung unterscheiden. 
2) Aber nicht jede Vorschrift der Staatsgewalt ist ein Gesetz. 
Ein Befehl, eine Anordnung der Regierung für den einzelnen Fall 
ist niemals ein Gesetz, weil sie ihre Kraft mit dem einzelnen Falle 
erschöpft, weil sie nicht auf andere, wenn auch noch so gleichartige
	        
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