Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

520 ll. Von den Funktionen des Staatsorganismus. 
richtig, dass das Gesetz im formellen Sinne darin dem Gesetze ım 
materiellen Sinne gleichsteht, dass es auch den Willen des Herrschers 
bindet, dass es nur mit Zustimmung der Volksvertretung wieder 
aufgehoben werden kann, dass es, wie Martitz sagt, »unverbrüch- 
lichesLandesrecht« geworden ist oder,mit Laband zureden, »formelle 
Gesetzeskraft« hat; aber seinem Inhalte nach wirkt das Gesetz ım 
materiellen und formellen Sinne verschieden, indem das erstere stets 
eine allgemeine bindende Rechtsvorschrift, das letztere eine Ver- 
fügung oder Ermächtigung für den einzelnen Fall enthält?. Be- 
sonders wichtig bleibt diese Unterscheidung für die Abgrenzung 
der Befugnisse der verschiedenen staatlichen Organe. Nur kraft 
derselben lässt sich bestimmen, an welchen Staatsakten die Kammern 
regelmässig theilzunehmen haben, an welchen nıcht3. 
schlossen. Selbst die scharfsinnigen Ausführungen von F. v. Martitz: »Ueber 
den konstitutionellen Begriff des Gesetzes nach deutschem Staatsrechte« (Zeit- 
schrift für die Staatsverfassung, 36. Jahrg., Heft II, 1880) haben mich nicht be- 
stimmen können, diese Unterscheidung zwischen Gesetzen im materiellen und 
formellen Sinne aufzugeben, welche ich heut zu Tage noch für praktisch und 
theoretisch unentbehrlich halte. 
2? Laband, Staatsr. B. Il. S. 62 sagt: »Gesetze, welche Rechtsregeln über- 
haupt nicht enthalten, können nicht diejenigen Wirkungen haben, welche dem 
Befehle, einen Rechtssatz zu befolgen, zukommen, sondern sie haben die ihrem 
Inhalte entsprechenden Wirkungen. Gesetze, welche Ermächtigungen ertheilen, 
haben die Wirkungen von Vollmachten, Gesetze, welche einen Rechtsstreit ent- 
scheiden, haben die Wirkungen von Urtheilen, Gesetze, welche den Haushalt 
regeln, haben die Wirkungen von Wirthschaftsplänen, also von Verwaltungs- 
vorschriften.« 
3 Dies wird treffend von G. Meyer in dem erwähnten Aufsatze 8. 25 hervor- 
gehoben: »Die Hauptbedeutung finde ich darin, dass die Unterscheidung einen 
Massstab an die Hand giebt, um die Befugnisse der einzelnen Staatsorgane zu 
regeln. Jeder staatliche Willensakt kann in der Form eines Gesetzes auftreten, 
jede Verfügung darf auch als Gesetz erlassen werden. Aber der Begriff des 
Gesetzes im materiellen Sinne ist wichtig für die Bestimmung derjenigen Gegen- 
stände, welche in den Formen der Gesetzgebung behandelt werden müssen. 
In den Bestimmungen unserer Verfassungen, nach welchen kein Gesetz ohne 
Zustimmung der Stände erlassen werden darf, ist der Begriff »Gesetz« im 
materiellen Sinne genommen. Demnach muss jede allgemeine, den Rechts- 
zustand der Unterthanen betreffende Vorschrift auch formell als Gesetz 
erlassen werden. — — Dagegen ist das Recht zum Erlasse von Verfügungen ein 
Ausfluss der Verwaltungsbefugnisse ; die Verfügungen gehen daher regelmässig 
von den Regierungsorganen aus. Die Anwendung der Gesetzesform ist bei den- 
selben nur dann erforderlich, wenn sic entweder durch die Verfassung vorge- 
schrieben wird, oder wenn die betreffende Verfügung eine Abweichung von einem 
gesetzlich festgestellten Grundsatze enthält.«
	        
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