40 I. Grundbegriffe des allgemeinen Staatsrechtes.
Darum hat sich die ältere Staatslehre meist nur mit dieser regel-
mässigen Gestaltung des Staatslebens beschäftigt und lange die ver-
schiedenen Formen der Staatenverbindungen unbeachtet gelassen.
Erst die wachsende Bedeutung solcher Staatenverbindungen im
praktischen Leben hat die 'Theorie genöthigt, ihnen ihre Aufmerk-
samkeit zuzuwenden, und zu dem Versuche veranlasst, dieselben
unter wissenschaftliche Kategorien zu bringen; doch fehlt es bis auf
den heutigen Tag an der wissenschaftlichen Uebereinstimmung in
der Begriffsbestimmung, wie in der Terminologie. Vor allem kommt
es darauf an, nicht blos sich einseitig mit der Entwickelung des
Gegensatzes zwischen Staatenbund und Bundesstaat zu beschäftigen,
wie dies gewöhnlich geschieht, sondern nach einer Eintheilung zu
suchen, welche alle Arten der Staatenverbindung umfasst. Diese
Eintheilung kann für die Rechtswissenschaften auch nur eine
juristische sein und so unterscheiden wir, nach den beiden
grossen Rechtsgebieten, völkerrechtliche und staatsrecht-
liche Verbindungen. Wir bezeichnen mit dem ganz allgemeinen,
zuerst von Pufendorf in die Wissenschaft eingeführten Namen
der Staatensysteme alle Verbindungen mehrerer Staaten, welche
trotz ihrer bleibenden rechtlichen Zusammengehörigkeit sich doch
als Staaten, mit einer mehr oder minder selbständigen Staatsge-
walt, nicht blos als Provinzen eines grössern Ganzen darstellen.
Ausgeschieden von der Betrachtung bleibt daher der decentra-
sedacht, dass jeder "Theil sich in der ihm zugewiesenen Sphäre mit der gleichen
Freiheit bewege, als ob ihn der andere gar nichts anginge. Eine solche Auf-
fassung widerspricht der Einheit des Staatsbegriffes und würde, praktisch durch-
geführt, zur Entzweiung so vollständig selbständig gestellter Gewalten, ja zur
Auflösung des Staates führen. In dieser Negation ist die Polemik von M. Seyde!il
(Kommentar zur Verfassung des Reiches. Würzburg 1873) wohlbegründet, schiesst
aber über das Ziel hinaus, indem sie den; Begriff des Bundesstaates ganz verwirft,
der seine gute Berechtigung hat. Die ältere Literatur über Staatenbund und Bun-
desstaat findet sich in H. A. Zachariä. Staatsr. Bd.I. $ 25, und bei H. Zöpfl,
Staatsr. B. I. $ 62—65, und in meiner Einleitung 8. 197. Schlagend in seiner
Kritik gegen Seydel, wie in seiner scharfsinnigen Polemik gegen die bisher
herrschende Theorie erörtert P. Laband, das Staatsrecht des deutschen Reiches
B. I. 1876. 8 8, »den Bundesstaatsbegriff«, ohne jedoch zu einer befriedigenden
positiven Bestimmung desselben zu gelangen; dagegen scheint uns A. Hänel
in seinen »Studien zum deutschen Staatsrechte«, Leipzig 1873, und in einem Auf-
satze: »Zur Kritik der Begriffsbestimmung des Bundesstaates« in G. Hirth's
Annalen des deutschen Reiches 1877. S. 78—92, von allen neueren Schrift-
stellern am tiefsten in das Wesen des Bundesstaates eingedrungen zu sein und
aus diesem heraus seinen staatsrechtlichen Begriff zu deduciren. Eine gute
Uebersicht der bisherigen bundesstaatlichen Theorien giebt Brie, der Bundes-
staat, Abth. I. Leipzig 1874.