Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

Von der Justiz. 541 
derung, gewissermaassen als ein Postulat des Vernunftrechtes, er- 
hob, dass die Entscheidung aller Rechtssachen in dem 
oben erörterten allgemeinen Sinne den Gerichten 
übertragen werden müsste. Diese Forderung ist bis jetzt 
in keinem Staate der Welt verwirklicht worden. Im alten deut- 
schen Reiche, wie in England und Nordamerika, welche Staaten 
man als Ideale für die Verwirklichung dieses Postulates hingestellt 
hat, wurden und werden die wichtigsten Rechtssachen durch Kör- 
perschaften, welche zugleich politische Funktionen üben, entschie- 
den, so durch den Reichstag, das Parlament, den Senat, das privy 
council, die quarter sessions der Friedensrichter u. s. w. 
Um für unsere Auffassung eine feste Terminologie zu gewin- 
nen, bezeichnen wir als Rechtssachen alle solche Fälle, wo es sich 
darum handelt, über ein verletztes oder bestrittenes Recht nach 
festen Rechtsgrundsätzen zu entscheiden, ganz ohne Rücksicht 
darauf, ob Gerichte, Verwaltungsbehörden oder politische Körper- 
schaften darüber zu sprechen haben, oder ob es für dieselben 
an jedem Richter fehlt!; Justizsachen nennen wir dagegen nur 
diejenigen Rechtssachen, welche nach der bestimmten Gesetz- 
gebung eines bestimmten Staates den ordentlichen Gerichten über- 
tragen sind. 
$ 193. 
3) Geschichtlicher Scheidungsprocess zwischen den 
Gerichten und Verwaltungsbehörden in Betreffihrer 
Kompetenz. 
In der altdeutschen Zeit, wie ım Mittelalter, bestand keine 
äusserliche Scheidung zwischen Gerichten und Verwaltungsbehör- 
den. Alle obrigkeitlichen Beamten, der Herzog, der Graf, der Cen- 
tenar verbanden mit der rechtlichen Gewalt militärischen Befehl, 
finanzielle und polizeiliche Befugnisse. Jurisdictio bezeichnet den 
! Es giebt zahlreiche wahre Rechtssachen, für welche gar kein Forum be- 
steht. Dahin gehören völkerrechtliche Streitigkeiten zwischen unabhängigen 
Staaten; in den meisten Staaten giebt es auch kein Gericht, welches über 
Thronstreitigkeiten mehrerer Prätendenten, über staatsrechtliche Streitigkeiten 
zwischen der Krone und den Kammern entscheiden könnte. Nicht das gehört 
nothwendig zum Begriffe der Rechtssache, dass wirklich ein Richter für ihre 
Entscheidung vorhanden ist, sondern nur dass die Sache innerlich so geartet ist, 
dass, wenn ein Richter vorhanden wäre, derselbe juristisch, d. h. nach festen 
Rechtsgrundsätzen über sie entscheiden könnte.
	        
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