Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

552 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus. 
galt, war doch jeder Zeit der Reichsgewalt untergeordnet. Nir- 
gends in Deutschland war, wenigstens de jure, die 
oberstrichterliche Gewalt von Kaiser und Reich ganz 
ausgeschlossen (S. 58). 
Dies Verhältniss fiel mit der Aufhebung des älteren deutschen 
Reiches hinweg, die höhere Instanz der Reichsgerichte hörte auf, 
die ganze Justiz kam in die Hände der Einzelstaaten. Der Bund 
als solcher hatte keine Gerichtsbarkeit. Die Bundesverträge trafen 
nur einige Bestimmungen über die Bildung der obersten Gerichts- 
höfe und gewährten eine gewisse Abhülfe bei Justizverweigerung 
durch die Landesgerichte. 
Mit der Gründung des norddeutschen Bundes und des neuen 
deutschen Reiches kehrte man zu den normalen Grundsätzen des 
älteren deutschen Reiches, Unterordnung der Landesjustiz 
unter die Reichsjustiz und die Reichsgesetze, wieder 
zurück, nur dass man dieselben folgerichtiger durchführte. Mit 
der Einführung der neuen Reichsjustizgesetze ist der Reichsgevwalt 
eine umfassende Betheiligung an der Ausübung der Gerichtsbarkeit 
eingeräumt. Die Einzelstaaten behalten nur die Gerichtsbarkeit 
der unteren und mittleren Instanz, während die Jurisdiktion in 
oberster Instanz wiederum Reichssache geworden ist und durch 
ein höchstes Reichsgericht ausgeübt wird. Diese höchstinstanz- 
liche Rechtsprechung des Reichsgerichtes wird nur dadurch durch- 
brochen, dass den Landesgesetzgebungen derjenigen Bundesstaaten, 
in welchen mehrere Oberlandesgerichte bestehen, nachgelassen 
worden ist, einen obersten Landesgerichtshof zu errichten. 
Die Kompetenz desselben umfasst die Verhandlung und Entschei- 
dung der regelmässig zur Zuständigkeit des Reichsgerichtes ge- 
hörenden Revisionen und Beschwerden in bürgerlichen Rechts- 
streitigkeiten, mit Ausnahme derjenigen Sachen, welche bisher zur 
Zuständigkeit desOberhandelsgerichtes gehörten oder durch beson- 
dere Reichsgesetze dem Reichsgerichte zugewiesen werden. Von 
diesem modemen privilegium de non appellando hat nur Bayern 
Gebrauch gemacht, sonst stehen alle deutschen Gerichte unter dem 
Reichsgerichte in oberster Instanz; dagegen sind alle die- 
jenigen Befugnisse der Justiz, welche nicht aus- 
drücklich den Organen des Reiches überwiesen sind, 
den Einzelstaaten verblieben. Unzweifelhaft ist wieder, 
wie im älteren deutschen Reiche, die Gerichtsbarkeit zwischen der 
Reichsgewalt und der Territorialgewalt vertheilt. Derjenige Theil
	        
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