568 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus.
der Staatsanwalt nur bei Ehescheidungsprocessen auf. Auch ist
die Befugniss der Staatsanwaltschaft zur ausschliesslichen Erhebung
von peinlichen Anklagen, das sogenannte Anklagemonopol,
durch die Reichsgesetzgebung wesentlich gemildert, indem dem
Verletzten, gegen den ablehnenden Beschluss derselben, der Antrag
auf gerichtliche Entscheidung zusteht. (Reichsstrafprocessordnung
89 170—173. Mit Ausnahme des Oberreichsanwaltes und der Reichs-
anwälte sind alle Staatsanwälte Beamte der Einzelstaaten und der
Aufsicht und Leitung der Justizverwaltung des betreffenden Bundes-
staates unterworfen.
Eine materielle Einwirkung auf die Ergebnisse der Kriminal-
justiz besitzt das Staatsoberhaupt durch sein Begnadigungs-
recht!. Begnadigung im weitesten Sinne heisst Erlass oder Mil-
derung einer Strafe. Durch die Begnadigung wird keineswegs ein
gerichtliches Urtheil aufgehoben oder verändert, sondern nur eme
dem Strafgesetze verfallene Person, ohne dass sie darauf einen recht-
lichen Anspruch hätte, von den gesetzlichen Folgen ihrer That ganz
oder theilweise entbunden. Durch die Begnadigung wird die Un-
abhängigkeit der Gerichte in ihren Urtheilen nicht beeinträchtigt,
wohl aber findet ein materieller Eingriff in den Gang der Strafrechts-
pflege statt. Daher haben Kant und andere hervorragende Natur-
rechtslehrer im vorigen Jahrhundert das Begnadigungsrecht als einen
Ausfluss persönlicher Willkür bekämpft. Aber die heutige \Wissen-
schaft hat diese Auffassung ebenso entschieden verworfen, wie die
heutige Staatspraxis. Obgleich man die Möglichkeit eines Miss-
brauchs dieses Rechtes nicht verkennt, so hat man doch dessen Be-
deutung vom Standpunkt einer höheren Gerechtigkeit aus würdigen
gelernt. Pflicht des Strafrichters ıst es, den Artikel des Gesetz-
buches auf jeden Fall, welcher logisch unter die Regel fällt, un-
1 J.J. Moser, Von der Landeshoheit in Gnadensachen, Kap. XII bis XIV.
J. Plochmann, DasBegnadigungsrecht. Erlangen 1845. Fr. G.v. Arnold,
Umfang und Anwendung des Begnadigungsrechtes. Leipzig 1560. J.C. F.L.
Lüder, Das Souveränetätsrecht der Begnadigung. Leipzig 1860. R.v. Mohl,
Begnadigung, Abolition und Amnestie, in dessen Staatsrecht, Verfassungsrecht
und Politik B. II. 8.631 ff. Zachariä, Deutsches Staatsrecht B. II. 8. 237.
$ 173. Zöpfl, Grunds. B. II. $ 456. 8. 602. Stahl, B. HI. $ 145. 8. 706.
Dahlmann, Politik S. 98. W. Brauer, in Bluntschli’s Staatsrecht B. 1.
Begnadigung 8. 762. Amnestie S. 197 ff. »Das Begnadigungsrecht, sagt Ber-
ner, ist ein Ausfluss der Souveränetät. Es bildet so naturgemäss ein Recht
des Staatsoberhauptes, dass man sich ein monarchisches Staatsoberhaupt ohne
Begnadigungsrecht gar nicht zu denken vermag.«