Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

Von der Justiz. 569 
nachsichtlich anzuwenden, wenn das Gesetz materiellauch dem 
einzelnen Falle keineswegs gerecht wird. Sein Urtheil ist hier zwar 
Rechtens, kann aber vom Standpunkte eines höheren Rechtes dem 
Verurtheilten schweres Unrecht thun. In einem solchen Falle kann 
der Richter keine Abhülfe gewähren. Hier ist recht eigentlich 
Platz für die Gnade, welche ein höheres menschliches Recht an die 
Stelle des positiven Gesetzesbuchstabens zu setzen hat. Das Staats- 
oberhaupt, als Spender der Gnade, handelt hier nicht als höhere 
richterliche Instanz, sondern als Vertreter einer höheren Rechts- 
ordnung, als persönlich ausgleichender Vermittler zwischen dem 
Buchstaben des positiven Gesetzes und den Forderungen einer 
ewigen Gerechtigkeit. »Der Herrscher stellt, indem erin 
das Recht eingreift, das Recht wieder her.« Daher 
kommt das Begnadigungsrecht erst dann zur Anerkennung, nach- 
dem mit der Staatsidee auch das monarchische Recht zur vollen 
Durchbildung gelangt ist. 
Dem einheimischen Rechte des Mittelalters war das Begnadi- 
gungsrecht als staatlicher Begriff fremd’. Erschien doch das Ver- 
brechen vorzugsweise als Verletzung einer privaten Berechtigung, 
die Strafe als eine der verletzten Person schuldige Genugthuung. 
Dagegen war »das Recht der Ablösung, Ledigung der öffentlichen 
Strafe« bei Ungerichten mit Einwilligung des Richters und des Ver- 
letzten zulässig und im Gebrauche. Es war dies ein Verzicht des 
Verletzten und des Richters auf Busse und Gewedde gegen Erlegung 
einer Geldsumme von Seiten des Verurtheilten. Aus diesem Straf- 
ablösungsrechte entstand aber, indem man die Lösungssumme und 
die Zustimmung des Verletzten fallen liess, ein richterliches Be- 
gnadigungsrecht, welches man zuliess, »wenn der Schuldige sich 
mit freiwilligem Geständnisse in die Gnade des Richters begab.« 
Seit dem XVII. Jahrhundert wurde das Begnadigungsrecht zu den 
landesherrlichen Regalien gezählt, doch wurde dasselbe 
noch mit mannigfachen Beschränkungen umgeben. Ausgeschlossen 
wurde es bei Verbrechen gegen Gott und göttliche Gebote, oder wo 
das Interesse von Privatpersonen vorzugsweise in Betracht kam. 
Erst das XVII. Jahrhundert befreite das Begnadigungsrecht von 
diesen mittelalterlichen Reminiscenzen und den ihm durch die ältere 
I Die geschichtliche Entwicklung des Begnadigungsrechts ist besonders 
gründlich ausgeführt von Hälschner, Geschichte des brandenburgisch- 
preussischen Strafrechts (Bonn 1855) und in seinem preussischen Strafrecht 
B. I. S. 44 ff.
	        
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