614 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus.
Christoph Jonathan Fischer (geb. 1750, + 1797). Muss es
als Verdienst dieser mit der neu erstandenen Polizeiwissenschaft
Hand in Hand gehenden Staatspraxis des XVII. Jahrhunderts an-
gesehen werden, dass sie dem einseitigen Rechtsstaate des Mittel-
alters einen reicheren Inhalt gegeben, dass sie den Staat zum Träger
aller Kulturinteressen erhoben hat, so leidet diese Richtung doch
auch an bedenklichen Auswüchsen. Dahin gehört erstens die oben
erwähnte Unterordnung des volkswirthschaftlichen Gesichtspunktes
unter das Finanzinteresse des Staates; zweitens die unbedingte
Unterordnung des Bürgers unter die centralisirende Bevormundung
des Staates. Die Staatspraxis, wie die Staatswissenschaft des XVII.
Jahrhunderts, erkennt keine andere Thätigkeit zum Besten des Ge-
meinwesens an, als die, welche von der Staatsgewalt und ihren Be-
hörden ausgeht. Für die Selbstthätigkeit der Individuen und Kor-
porationen bleibt kein Raum übrig. Für die individuellen Rechte
der Bürger hatte das XVII. Jahrhundert das Bewusstsein verloren.
Mit der verschwommenen Allgemeinheit des Polizeibegriffes glaubte
die Staatsgewalt Alles durchsetzen zu können, was das sogenannte
Gemeinwohl erheischte, eine an sich inhaltslose Formel, welcher
in der Wirklichkeit der absolute Staatsherrscher ganz nach indivi-
duellem Ermessen einen konkreten Inhalt gab.
Diese Richtung hat unter grossen Herrschern Grosses geleistet,
vielfach aber auch nur dem Eigennutz und der Genusssucht der
Machthaber gedient, überall aber die Initiative des Volkslebens, die
freie Bewegung der kleinen Organismen im Staate, im öden Mecha-
nismus einer Alles beherrschenden Büreaukratie erdrückt.
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3) Dieendliche Versöhnung des Rechtsstaates mit dem
Kulturstaate in dem Verfassungsstaate der Neuzeit.
Im Gegensatz zu diesem Alles bevormundenden Despotismus
des eudämonistischen Polizeistaates beschränkte Kant in seiner
Rechtsphilosophie am Ende des X VIII. Jahrhunderts die Staatsgewalt
auf das engste Maass der Wirksamkeit, gegenüber der Freiheit des
Individuums. Zweck und Aufgabe des Staates sollnur
der Schutz der Einzelberechtigung sein, weshalb er die
Aufsicht darüber zu üben hat, dass keiner die ihm zugewiesenen
Grenzen überschreite. Verwirklichung der Rechtsordnung
gilt Kant als der einzige Zweck des Staates. Nur auf Umwegen