664 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus.
lichen Hierarchie angesehen wurde. Er erliess Gesetze nicht nur
zum Schutze der Kirche, sondern auch über Verfassung und Kultus,
er berief die Konzilien der Bischöfe, bestätigte ihre Beschlüsse,
entschied streitige Dogmen und verfolgte die Ketzer (Justinian:
»Nos igitur maximam habemus sollicitudinem circa vera Dei dogmata
et circa sacerdotum honestatem«). Eine ähnliche Stellung, wie in
OÖstrom, nahm die katholische Kirche ım Frankenreiche an. Ueberall
griff die königliche Gewalt tief in das Kirchenregiment ein. Die
Bischöfe wurden vom Könige ernannt, die Synoden von ihm berufen,
ihre Beschlüsse von ihm bestätigt. Karl der Grosse fühlte sich,
wie Konstantin und Justinian, auch als das Oberhaupt der
Kirche. Auch unter den sächsischen Kaisern änderte sich das
Verhältniss der Kirche zur weltlichen Gewalt nicht. Kaiser
Heinrich Ill. aus fränkischem Hause rettete dadurch die Einheit
der Kirche, dass er Päpste ein- und absetzte und die tief entartete
Kirche von Missbräuchen reinigte. Aber die gereinigte und wieder
erstarkte abendländische Kirche fand in Gregor VI. (1073—1085)
ihr gewaltigstes Haupt. Der Wendepunkt des ganzen Verhältnisses
zwischen Staat und Kirche liegt im Siege Gregor’s VII. über
Heinrich IV. Gregor VII. erkannte, dass die Unabhängigkeit
des römischen Stuhles von der weltlichen Macht nur durchzusetzen
wäre, wenn die Oberherrschaft der geistlichen Macht anerkannt
wäre. Das System Gregor’s VII. geht mit der hochgesteigerten
Entwickelung des Begriffes des Priesterthums Hand in Hand.
Die Kirche erhebt sich über den Staat, wie der Priester über den
Laien. Der Staat, als Erzeugniss menschlicher Willkür, trägt seine
Berechtigung nicht in sich selbst, sondern empfängt sie erst von der
Kirche. Diese urtheilt auch über seine sittlichen Bethätigungen
und greift in seine Lebensordnungen ein, wo sich nach ihrer Ansicht
die Sünde Eingang verschafft oder wo sie glaubt, dass das religiöse
Gebiet von einem bürgerlichen Verhältnisse berührt wird. Die
Grenzregulirung zwischen Staat und Kirche liegt
lediglich in der Hand der letzteren. Kurz, die Frei-
heit der Kirche im Mittelalter bedeutet die Knecht-
schaft des Staates. In dieser Weise steigerten die folgenden
Päpste womöglich noch die Ansprüche der Kirche, sie behaupteten,
dass den Päpsten auch alle weltliche Herrschaft, ja das Obereigen-
fassende Geschichte des deutschen Kirchenrechtes hat begonnen E. Löning,
Strassburg 1878. B. I: Das Kirchenrecht in Gallien von Konstantin bis
Chlodovech. B.H: Das Kirchenrecht im Reiche der Merovinger.