Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

Das Rechtsverhältniss des Staates zur Kirche. 667 
dem Gemeindeprincip auferbauen, fand aber dazu in den aller Selbst- 
regierung entwöhnten deutschen Gemeinden, besonders des platten 
Landes, nicht das genügende Material. Von Kaiser und Reich war 
für die evangelische Bewegung nichts zu hoffen, aber alles zu 
fürchten. Das ganze Heil der Reformation lag in den 
Territorialgewalten!. Als ım Jahre 1526 der Reichstag zu 
Speyer den Beschluss gefasst hatte: »dass sich in den Sachen, so 
das Wormser Edikt (Luther’s und seiner Anhänger Aechtung be- 
treffend) belangen möchten, jeder Reichsstand für sich also zu leben, 
zu regieren und zu halten berechtigt sein solle, wie ein jeder 
solches gegen Gott und kaiserliche Majestät hoffe und vertraue zu 
verantworten«, war schon damals die kirchliche Entwickelung aus 
dem Reiche in die Territorien verlegt. Es ist hier nicht am Platze, 
die einzelnen Stadien zu verfolgen, welche von dem R.A. zu 
Speyer bis zum Religionsfrieden von Augsburg die obrigkeitliche 
Kirchenherrschaft durchlaufen hat; es genügt das Resultat, dass 
seit dieser Zeit der Begriff der christlichen Obrigkeit und 
des christlichen Staates fertig dasteht. Die Auffassung, dass 
der weltlichen Gewalt auch das geistliche Regiment zustehe, durch- 
zieht alle Kirchenordnungen der damaligen Zeit, mögen sie von 
städtischen Obrigkeiten oder von Fürsten ausgehen. Die Landes- 
herren legten sich das doppelte Amt, »Regierung des Fürstenthums 
und der Gemeinde«, bei. Während seit dem Augsburger Religions- 
frieden von 1555 die Fürsten sich auf das ihnen angefallene jus 
episcopale beriefen und sich seitdem als summi episcopi betrachteten 
(Episkopalsystem), kam später, besonders in Preussen, das Terri- 
torıalsystem zur Geltung, wonach der Fürst nicht mehr als 
summus episcopus das Kirchenregiment ausübt, sondern lediglich 
als Landesherr, als einen Theil der Staatsgewalt. Die Kirche 
gilt als Staatsanstalt, die Geistlichen als Staatsdiener, die fürstliche 
Gewalt befiehlt in Kirchensachen ebenso absolut, wie in weltlichen 
Dingen; selbst die Lehre und die Ordnung des Gottesdienstes wird 
von Staatsbehörden geregelt. So war ın den meisten Ländern 
Deutschlands, der evangelischen Kirche gegenüber, nicht nur das 
Recht des Staates zur Geltung gebracht, sondern jede selbständige 
Lebensordnung der Kirche verneint. Ilatte die Kirche des Mittel- 
1 A.L. Richter, Geschichte der evangelischen Kirchenverfassung. Leipzig 
1851. 8.28: »Es war das einzige Mittel der Hülfe gegen die drohende Zerrüttung 
aller Verhältnisse des Lebens, dass das, was von Reichswegen nicht geschehen 
konnte, den einzelnen Ständen anheim gegeben wurde.«
	        
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