Full text: Das Völkerrecht systematisch dargestellt.

3 25. Das völkerrechtliche Delikt. 181 
Auch der dauernd neutralisierte Staat darf mithin den feindlichen 
Überfall mit Waffengewalt abwehren. Er handelt in Notwehr. Ebenso 
der dritte Staat, der, wie Deutschland 1914, der drohenden Verletzung der 
dauernden Neutralität durch seinen Kriegsgegner durch Besetzung des neu- 
tralen Gebietes zuvorkommt. Derselbe Grundsatz gilt für den Notstand. 
Droht den Lebensinteressen eines Staates, seinem Dasein und seiner 
Entwicklungsmöglichkeit (seiner Selbsterhaltung und Selbstenifaltung) 
Gefahr, so darf er sie bei überwiegendem Interesse durch Verletzung 
der berechtigten Interessen eines dritten Staates schützen. Doch hat er 
in diesem Falle Ersatz zu leisten, soweit ihm nicht bewaffneter Wider- 
stand entgegengesetzt würde. Auch diejenigen Schriftsteller, welche 
die Anwendbarkeit des Notstandbegriffes im Völkerrecht leugnen, ge- 
währen dem bedrohten Staat das „Recht auf Selbsterhaltung‘?) und 
damit das Recht, ‚„Staatsnotwendigkeiten‘ auch auf Kosten berechtigter 
Interessen anderer Staaten durchzusetzen. Damit ist derselbe Begriff 
innerhalb engerer Grenzen anerkannt. Aber soll der Staat wirklich 
warten, bis er vor der unmittelbar drohenden Gefahr des Unterganges 
steht ? | 
Auf dem Notstande beruht auch das Recht der Seeschiffe, der 
Kriegsschiffe wie der Handelsschiffe, zur reläche force&e, d. h. zum 
Aufenthalt in einem ihnen sonst verschlossenen Hafen, wenn sie durch 
Seenot dazu gezwungen sind (oben $ 12V). 
Sehr bestritten ist die Frage des Notstandes für das Gesamtgebiet 
des Kriegsrechts (vgl. unten $39). Vielfach behauptet man, daß die Rechts- 
regeln der Kriegführung (die „Kriegsmanier‘) eingeschränkt würden 
durch die „Kriegsraison“ (necessit& de guerre). Diese Behauptung 
verkennt die moderne Entwicklung des Kriegsrechts, das (man vergleiche 
Art.22 des Anhanges zum 4. Abkommen 1907) den Kriegführenden ein 
„unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des 
Feindes‘‘, also der necessaria ad finem belli, abspricht und die Anwen- 
dung bestimmter Kriegsmittel ausdrücklich verbietet. Eine offene Stadt 
darf auch dann nicht beschossen werden, wenn von ihrer Vernichtung 
der Ausgang des Kampfes abhängen sollte. Wohl aber greift auch im 
Kriege der Begriff der Notwehr Platz: gegen rechtswidrigen Angriff 
ist Verteidigung stets gestattet. Und auf den Begriff des Notstandes 
verweist die in den Kriegsregeln vielfach sich findende „Umstands- 
klausel‘“ („soweit es die Umstände gestatten‘). 
V. Die Bechtsfolgen des völkerrechtlichen Deliktes sind vielgestaltiger 
als die in dem nationalen Recht aufgestellten Rechtslolgen des privatrecht- 
liehen Deliktes oder des strafrechtlichen Verbrechens. 
7) Vgl.z.B. Fleischmann, Auslieferung und Nachteile nach deutschem 
Kolonialrecht. 1906, 8. 62. — Die Parallele mit dem innerstaatlichen Recht, dem 
beide Begriffe seit Jahrhunderten geläufig sind, bedarf keiner Ausführung.
	        
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