8 88. Die nicht-kriegerische Erledigung der Staatenstreitigkeiten. 271
Kriegszustand mit seinen Rechtsfolgen, auch den Neutralen gegenüber, nicht
erzeugen.
. 1. Unter den Arten der indirekten Selbsthilfe ist zunächst die Retorsion
oder Vergeltung im engern Sinn zu nennen, Sie besteht darin, daß eine unbillige
.Maßregel, die ein Staat gegen einen andern Staat ergriffen hat, durch eine ad-
äquate Unbilligkeit erwidert wird; und ihr Zweck geht dahin, den Gegner zur
Beseitigung jener ersten unbilligen Maßregel zu bestimmen.
a) Voraussetzung für den Eintritt des Vergeltungsrechtes ist mithin
nicht eine Verletzung des Völkerrechtes, sondern eine innerhalb der
Schranken des rechtlich Zulässigen sich bewegende Unbilligkeit (ein
jus inigquum), die in einer differenziellen Behandlung des sich be.
schwerenden Staates, also darin besteht, daß dieser in seinen Staats-
angehörigen schlechter behandelt wird als die übrigen Staaten. Darin
liegt der Unterschied der Retorsion von der unter 2 besprochenen Re-
pressalie, deren Vorausseizung in einer Verletzung des Völkerrechts
besteht.
Der Inhalt der Vergeltungsmaßregel besteht ebenfalls in einer
Unbilligkeit, nicht in einer Verletzung des Völkerrechts. Und zwar
muß die erwidernde Unbilligkeit, dem Wesen der Vergeltung ent-
sprechend, der erwiderten zwar nicht wesensgleich, wohl aber gleich-
wertig. sein. Als ein im heutigen Staatenverkehr praktisch besonders
wichtiger Fall der Vergeltung erscheint der sogenannte Zollkrieg.
So können nach $ 10 Abs. 1 des Deutschen Zolltarifgesetzes vom
25 Dezember 1%2 (R.G.Bl. S.303) „zollpflichtige Waren, die aus Län-
dern herstammen, in welchen deutsche Schiffe oder deutsche Waren un-
günstiger behandelt werden als diejenigen anderer Länder, neben dem
tarifmäßigen Zollsatz einem Zollzuschlage bis zum doppelten Betrage
dieses Satzes oder bis zur Höhe des vollen Wertes unterworfen. werden.
Tarifmäßig zollfreie Waren können unter der gleichen Voraussetzung
mit einem Zolle in Höhe bis zur Hälfte des Wertes belegt werden.“
Über die Anwendung des Vergeltungs- oder Kampfzolles (auf Grund des
Zolltarifgesetzes vom 15. Juli 1879) auf Haiti vergleiche man die Ver-
ordnung vom 17. April 1901 (R.G.Bl S.121). Auch der Ausschluß
fremder Staatspapiere von dem amtlichen Börsenverkehr und die Ver-
schärfung des Paßzwanges haben in den letzten Jahren eine Rolle
gespielt.
b) Die Anordnung der Vergeltung ist stets Sache der Staatsgewalt.
Sie kann durch die nationale Gesetzgebung an bestimmte Voraus-
sefzungen gebunden sein. So verfügt Artikel 31 des Einführungsgesetzes
zum deutschen Bürgerlichen Gesetzbuche: „Unter Zustimmung des Bun-
desrats kann durch Anordnung des Reichskanzlers bestimmt werden,
daß gegen einen ausländischen Staat sowie dessen Angehörige und
ihre Rechtsnachfolger ein Vergeltungsrecht zur Anwendung gebracht