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barer Pracht und Farbenglut, und die plastischen Werke des Münsters
(deren einige von Frauenhand, von einer Künstlerin Savina, her-
rühren) müssen zu den hervorragendsten Leistungen deutscher Sculp-
tur des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts gezählt werden.
Bei dem Tode der Maria an dem Portal des südlichen Querschiffs
überrascht die reiche Gruppirung und die dichtanschließende Gewan-
dung, welche die Körperformen durchscheinen läßt. Und der plastische
Schmuck der Fagade, welcher die ganze Geschichte der Erlösung um-
faßt, erinnert in Leichtigkeit und Freiheit der Behandlung an fran-
zösische Sculpturen.
Aber dies alles kam für die Mit- und Nachwelt wenig in Be-
tracht neben der staunenswürdigen Schöpfung Erwins und seiner
Nachfolger. Man begreift, wie die Bädeker und Murray des
sechszehnten Jahrhunderts sie für das achte Wunder der Welt er-
klären mochten.
Es ist doch etwas Großes, so hoch in die Wolken zu bauen.
Seit den Werken orientalischer Despoten, seit den riesigen Hügeln,
welche ägyptische Könige als Pyramiden über ihren Gräbern auf.
führten, hat man so vermessen nicht mehr in die Lüfte gestrebt.
Auch dort eine Art Mittelalter, die Wissenschaft in den Händen der
Priester, der Unterschied der Stände bis zur schroffsten Trennung
gediehen. Aber dort der Uebermuth eines Despoten, den die Herr-
schaft über Knechte trunken macht: hier das Selbstgefühl eines Bürger-
standes, der die Macht des Fleißes und der Hingebung in sich kennen
gelernt hat. Dort der grollend geleistete Dienst eingeschüchterter
Sklaven: hier die begeisterte Arbeit freier Männer, die trotzig in
schwindelnde Höhen klimmen mit einem heiligen, kühnen Glauben,
wie jenes fromme Weib: „Her, freuet Euch mit mir, denn ich bin
Gott geworden.“
Aber nicht solche Betrachtungen sind es zunächst, zu denen uns
Deutsche das Münster auffordert. Ist es nicht ein Werk deutschen
Genies, das wir da bewundern? Und war es nicht der Ausdruck
unserer tiefsten Erniedrigung, daß wir den Schatz nicht mehr zu