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versammelte sich diese neue französische Welt, um sich in den Ge-
nüssen der freiheitlichen Litteratur Frankreichs zu üben. Frau von
Dietrich war eine sehr gebildete Dame; ihre Herkunft wies aber in
einer langen Reihe von Vorfahren auf nichts anderes hin, als auf
Baseler Bürger, denn sie war aus der wolbekannten Familie Ochs,
und ihr Bruder war der bänderreiche deutsche Geschichtschreiber seiner
Vaterstadt. Madame Dietrich-Ochs war in herzlichem Einverständnie
mit ihrem Gemale eifrig bestrebt, für die neue französische Ordnung
der Welt zu wirken. Von dem Zauber des französischen Geistes
Kleichsam gefangen, darf man sie zu den gewissermaßen idealistischen
Erscheinungen zählen, welche man in der jungfräulichen Epoche der
Revolution in Frankreich, unter den Frauen der guten Pariser Ge-
sellschaft in diesen Tagen eines noch reinlich erbaltenen Gefühle der
nationalen Begeisterung in liebenswürdiger Weise findet. Ol dieser
nationale Aufschwung der Seele jedoch der Straßburger Frau aus
altem Baseler Bürgergeschlechte so durchaus natürlich war, läßt sich
nicht sagen; aber ihrem Salon ist das Andenken der französischen
Nation durch ein denkwürdiges Ereignis gesichert; denn als im
April 1792 der Krieg an Oesterreich erklärt worden war, fand sich
ein junger Artillerieofficier bei Marame Dietrich, Namens Rouget
de l'Isle. Der patriotischen Stimmung, welche in diesem Augen-
blicke alle Leherrschte, gab der junge Officier einen bleibenden Ausdruck,
indem er den damalo in Umlauf gekommenen Text eines Revolutions-
liedes, wie es schien aus plötzlicher Inspiration, in Musik setzte und
unter dem Beifall der Amvesenden sang. Das war die Mar-
seillaise. In weniger freiwilliger Weise hatte der Kapellmeister
von Straßburg Ignaz Plevel, ein Schüler Hayrus, sein großes
Oratorium zur Verherrlichung der Pariser Revolution vem 10. Av-
#Lust 1792 unter Aufsicht eines Gensd-armen componirt. Aber immer
von neuem mußte das gewaltige Musikstück, „die allegorische Sturm-
Glocke“ im Chore des Münsters aufgeführt werden, welches die
Begeisterung für die Revolution zu hellen Flammen entfachte.
Nichts war unterlassen werden, um die Bevölkerung Straß-
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