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Zu der Zeit, als Herrad schrieb und zeichnete, hatte bereits
eine neue weltliche Poesie in deutscher Sprache ihr Haupt erhoben,
welche sozial auf dem Ritlerthum, litterarisch auf Import aus
Frankreich beruhte. Hier greift das Elsaß wieder mächtiger ein,
und sein Charakter der Vermittelung zwischen Französisch und Deutsch
kommt recht zur Geltung. Fahrende Sänger, ritterliche Dichter, vor-
nehme Bürger theilen sich in die Aufgabe. Keine große Zahl, wenige
Namen, aber darunter solche vom ersten Range.
Die lustigen Geschichten von Reineke Fuchs und dem Wolf
Isegrimm, an welchen die Deutschen bis auf die neueste Zeit so
viel Vergnügen fanden, wurden damals zuerst durch den Elsässer
Heinrich den Glichezare, einen fahrenden Mann, aus französi-
schen Vorlagen in deutsche Reime gebracht. Der Ritter Reimar
von Hagenau zeichnete sich in lyrischer Poesie nach Art der Süd-
franzosen aus; Meister Gottfried von Straßburg im erzählenden
Gedicht, das er aus nordfranzösischen Quellen entnahm.
Die geistreiche Liebesdichtung der Provence wurde durch den
Pfälzer Friedrich von Hausen, einen der angesehensten Hofmänner
jener Zeit, in Deutschland eingeführt. Der Elsässer Reimar von
Hagenau brachte sie zur feinsten Ausbildung und erbte das beste
Theil seines Könnens auf den Oesterreicher Walther von der Vogel-
weide fort, der daneben freilich noch ganz andere vollere und tiefere
Töne anzuschlagen wußte.
Reimar wird von seinem Landsmann Gottfried für den ersten
aller lyrischen Dichter erklärt. Er bewundert die Unerschöpflichkeit
der Variationen, in denen sich sein Gesang bewegt. Es ist ihm,
als ob Orpheus' Zunge, der alle Töne konnte, tönte aus seinem
Munde. Diese Variationen drehen sich aber alle um ein Thema:
Reimar hat fast ausschließlich Liebeslieder gedichtet. Nirgends
jedoch vernehmen wir den Naturlaut tief erregten Gefühls, nir-
gends das Stammeln der Leidenschaft. Er ist ein Scholastiker der
Liebe. In spitzfindigen Wendungen philosophirt er über seine
Empfindung, er zergliedert und macht sich Einwürfe, er strengt