Full text: Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart.

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frieds Ziel ist Seelenschilderung, er weist alles ab, was diesem 
Zweck nicht dient. Und dabei entwickelt er eine Feinheit der Be- 
obachtung und eine Kunst der Darstellung, welche wahrhaft in 
Erstaunen setzen müssen. Er besitzt die absolute Herrschaft über 
die Sprache, die graziöseste Leichtigkeit des vielgegliederten Perioden- 
baues und eine Fülle der Rede, die sich in Strömen zu ergießen 
scheint. Mit dem tiefsten Naturgefühl, mit der Pracht der Malerei 
verbindet er die Kunst der Charakteristik. Was für durchgebildete, 
menschlich wahre Gestalten: sein Rual der getreue; seine aufopferungs- 
volle Brangäne; sein schwacher, gutmüthiger, verliebter, leichtgläubiger 
König Marke; seine umwiderstehliche, gleich einer Göttin bezaubernde, 
dabei wie eine Hexe listige und in der Verblendung der Leidenschaft 
bis zum Verbrechen rücksichtslose Isolde; und vor allem sein Tristan! 
Gottfried war Stadtschreiber zu Straßburg (um 1207). Da- 
mit muß man aber nicht den Begriff einer verkümmerten Büreau- 
kratenexistenz verbinden, sondern eher die Vorstellung eines einfluß- 
reichen Staatsmannes oder Diplomaten, der sich in den Geschäften 
bewegt und dabei freien Weltblick und liberale Lebensanschauung 
erworben hat. Das weltmännische Ideal der Mittelalters hat kein 
anderer Dichter mit solcher Kunst dargestellt wie Gottfried im 
tugendlichen Tristan. 
Niemand, der die Geschichte Tristans liest, kann sich dem Ein- 
drucke der hinreißenden Liebenswürdigkeit dieses Herzenbezwingers 
entziehen, dem alles, auch das schwerste, mühelos zu glücken scheint. 
In der Erzählung seines ersten Auftretens bei Hofe, wo er seine 
Talente in der ungezwungensten Weise zu entfalten und alles zu 
entzücken weiß, scheinen Artigkeit, freundliches Benehmen, angenehme 
Sitten und ausgebildete Umgangsfermen ein ununterbrochenes Fest 
zu feiern Nirgends wird uns so anschaulich, daß die Aesthetik 
des Lebens im damaligen Deutschland eine Stufe erklommen hatte, 
wie sie bei uns höchstens im vorigen Jahrhundert in wenigen Kreisen 
wieder erreicht wurde. « 
Alle verborgensten und wunderbarsten Register seiner Kunst
	        
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