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Zeit eingesogen, der setzt sich selbst herab gegenüber einer einfachen
Frau, die nichts aufzuweisen hat, als ihre unendliche unaussprechliche
Sehnsucht nach dem Höchsten, ihr unbezwingliches Verlangen nach
der Seligkeit, dem sie alles opfert. Also es war denkbar, daß ein
Laie durch eigene Kraft und durch die Gnade Gottes einen Zustand
der Vollkommenheit erreichte, um den ihn die gelehrtesten Geistlichen
beneiden mußten. Es war, als ob der Vorhang des Tempele gerissen
und das Allerheiligste, bisher nur den Priestern zugänglich, allem
Volk eröffnet wäre.
So kam denn dies nech hinzu zu den Geißlerfahrten, zu dem
Ketzerwesen: ein starker religiöser Drang der Laien, ein leiden-
schaftliches Aufwärtsstreben zu Gott, ein schmerzliches Ringen nach
der Seligkeit, aber ohne demonstrative Ceremonien, wie bei den
Geißlern, ohne Empörung gegen die Kirche, wie bei den Ketzern.
Es bildet sich am Oberrhein aus Laien und Geistlichen eine
stille Gemeinde der Frommen und Gottergebenen, welche die
wunderbarsten Erscheinungen darbietet. Man führt ein Leben, wie
man es in den Legenden der Heiligen beschrieben fand. Strenge
ascetische Uebungen werden vorgenommen, man sucht mit der Zurück-
ziehung von allem Sinnlichen Ernst zu machen, man bemüht sich,
überirdische Träume und Visionen zu haben. Diese sind niemals
schreckhaft und ungehenerlich, sie haben stets etwas mildes, anmuthiges
und sanftes. In das religiöse Leben kommt ein neuer Zug der
Innigkeit und ein Zug der Hingebung an die abstracte Gedankenwelt.
Sogar in Liedern sucht man Eckards Grundgedanken auszusprechen:
Ich muß die Creaturen fliehen
Und suchen Herzeneinnigkeit,
Soll ich den Geist zu Gotte ziehen,
Auf daß er bleib’ in Reinigkeit.
Die frommen Kreise treten mit einander in Beziehung, be-
stärken sich gegenseitig, tauschen ihre Erfahrungen aus, theilen sich in
sorgfältiger Aufzeichnung Träume und Visionen mit, sammeln ihre