Angriffsabsichten des Feindes 173
wahrt. Deutscherseits wurden allein die rein militärischen Erfordernisse
immer scharf in den Vordergrund gestellt.
Am 4. Juni begann der russische Angriff gegen die österreichisch-unga-
rische Front östlich Lutzk, bei Tarnopol und hart nördlich des Dnuzjestr.
Die Angriffe wurden mit keiner ausschlaggebenden Überlegenheit ge-
führt. Sie wurden in der Gegend von Tarnopol von der Armee des Ge-
nerals Grafen v. Bothmer, der nach dem General v. Linsingen die deutsche
Südarmee übernommen hatte, glatt abgeschlagen, dagegen führten sie an
den beiden anderen Stellen zu einem vollen russischen Erfolg. In die
österreichisch-ungarische Front brach der Russe an beiden Stellen tief ein.
Was aber noch bedenklicher war, die k. u. k. Truppen hatten eine so
geringe Widerstandsfähigkeit gezeigt, daß die Lage an der Ostfront mit
einem Schlage ungemein ernst wurde. Obschon wir selbst mit einem An-
griff rechneten, stellten wir sofort Divisionen zum Abmarsch nach Süden
bereit. Die Heeresgruppe Generalfeldmarschall Prinz Leopold von Bayern
verfuhr in gleicher Lage entsprechend. Die deutsche Oberste Heeresleitung
beanspruchte beide Heeresgruppen sehr stark, sie zog auch vom Westen Divi-
sionen heran. Die Sommeschlacht hatte damals noch nicht begonnen. Öster-
reich-Ungarn stellte allmählich seine italienische Offensive ein und sandte
gleichfalls Truppen nach seiner Ostfront.
Die italienische Armee ging darauf gegen Tirol zum Angriff über.
Die Kriegslage hatte sich vollkommen geändert. Sie sollte sich bald darauf
durch den Beginn der Sommeschlacht und später durch die Kriegserklärung
Rumäniens noch schärfer zu unseren Ungunsten verschieben.
Diie deutsche Oberste Heeresleitung scheint gehofft zu haben, den feind-
lichen Durchbruch bei Lutzk durch einen Gegenangriff ausgleichen zu
können, ähnlich wie es uns später im November, Dezember 1917 bei
Cambrai gelang, während der tiefe Einbruch am Dnjestr aufgefangen
werden sollte.
Der russische Angriff bei Lutzk fraß sich bei dem Versagen der
österreichisch= ungarischen Widerstandskraft schnell vorwärts und erreichte
längs der Eisenbahn nach Kowel den Stochod. Die ersten deutschen
Verstärkungen wurden mit in den Rückzug verwickelt. Am Stochod, zu
beiden Seiten der Bahn, bildete sich allmählich eine neue deutsche
Front. Sie stand in Fühlung mit den am Stdr stehengebliebenen
österreichisch--ungarischen Truppen. In westlicher Richtung war der Russe
weniger scharf gefolgt, obschon hier ein großer Sieg winkte. Er hatte
aber zu wenig Truppen zur Stelle, um die Lage auszunutzen. Die ge-
schlagene k. u. k. 4. Armee konnte ihre Trümmer hart westlich des Stochod
bei Saturtzy—Kisjelin sammeln. Es war natürlich, daß der südlich Lutzk
freigewordene österreichisch-ungarische Flügel scharf zurückschwenken mußte,