560 XXII. Friedensverhandlungen
General Ludendorff: Das übersehe ich nicht. Damit habe ich mich seit 1916 redlich
bemüht; es ist kaum ein Monat vergangen, daß ich nicht gedrängt habe. Ob die Ver-
stärkungen rechtzeitig kommen? Verstärkungen") kommen immer rechtzeitig. Man kann
nie wissen im Kriege, wie lange eine Aktion dauert. Wie oft habe ich Reserven geschickt,
wenn man meinte, sie kämen zu spät, und sie kamen doch nur zur Zeit. Man muß sie
schicken und das übrige dem Schicksal überlassen.
Der Reichskanzler: Ich bitte den Herrn Kriegsminister, sich dazu zu äußern.
Krlegsminister Scheüch: Es kommen zwei Maßnahmen in Betracht. Die nor-
male allgemeine Ergänzung oder eine starke, einmalige, unter Beeinträchtigung der nor-
malen. Für die erste Maßnahme gilt folgendes: der normale Nachschub an Ersatz für
das Feldheer ergibt nach den neuesten Berechnungen für Preußen und die anderen
Staaten zusammen monatlich 190 000 Mann. Sie können gestellt werden ohne sehr
fühlbare Eingriffe in die Heimatwirtschaft. Die einzelnen Zahlen brauche ich hier wohl
nicht anzugeben.
Soll das Heer einen einmaligen starken Nachschub erhalten, so berechne ich den
auf rund 600 000 Mann. Dabei rechne ich nicht hoch. Die Einzelberechnungen ergeben
sogar 637 000 Mann. In diesem Falle würde der Eingriff schon fühlbar werden. Ich
glaube nicht, daß eine erhebliche Minderproduktion an Kriegsgerät eintreten würde,
aber die Heimatwirtschaft würde gestört. Die Nachweisung im einzelnen würde man
in engeren Kreisen durchgehen können und dann auch in Betracht ziehen, was man an
unausgebildeten Leuten erhält. So zum Beispiel den Rest des Jahrgangs 1900, von
dem noch 50 000 Köpfe in den Betrieben stecken. Das andere ist schon ausgebildet, zum
größten Teil in den Depots, zu einem Drittel in der Heimat. Das ist allerdings dann
auch das letzte. Eine Ausbildung ist ja doch nötig für die anderen.
Nun ist aber zu bedenken: wenn wir die 600 000 in die Front hereinbekommen,
ist weiterer Ersatz nötig. Dann können wir im Monat nicht mehr rund 190 000, sondern
nur rund 100 000 Mann für das nächste halbe Jahr sicherstellen. Den weiteren Ersatz
bis zum Herbst 1919 könnte man dann wieder auf 150 000 Mann monatlich anschlagen,
wenn der Jahrgang 1901 früher eingestellt würde. Das Reservoir des nächsten Jahres
wäre also gegen Ende September erschöpft.
General Ludendorff: Ich bin unbedingt für den zweiten Fall. Hätten wir diese
günstigen Zahlen schon jetzt gehabt, so hätten wir die Krise an der Westfront nicht be-
kommen. Und wenn ich die Leute bekomme, sehe ich vertrauensvoll in die Zukunft. Ich
muß aber die Leute bekommen und zwar bald bekommen, dann können wir wieder
hoffnungsfreudig sein.
Kriegsminister Scheüch: Ich möchte die Versicherung geben, daß ich meine ganze
Kraft einsetze, daß diese Zahl eingehalten wird. Dann wollen wir aber nach dieser
Richtung auch keinen Tag versäumen.
General Ludendorff: Ich möchte den Herren ein Bild der Lage geben. Vorgestern
war die Schlacht bei Dpern. Engländer und Franzosen griffen mit sehr starken Kräften
an. Wir wußten das. Wir wollten standhalten. Wir sahen die Gefahr kommen. Es
war eine schwere Lage, sich zu sagen, wir werden zurückgedrängt und müssen doch
standhalten. Wir sind zurückgedrängt worden, aber es ist gut abgelaufen. Zwar sind
Löcher von vier Kilometer Breite in der Front entstanden, aber der Feind hat nicht
durchgestoßen, und wir haben die Front gehalten. Was hätten da die Ergänzungen
aus der Heimat für eine Bedeutung für uns gehabtl!
Die Anspannung des einzelnen Mannes hat einen Grad erreicht, der nicht mehr
überboten werden darf. Mann und Offizier haben das Gefühl der Vereinsamung.
Wenn der Offizier weggeht, sagen die Leute: „Wohin gehen Sie, Herr Leutnant?“" und
dann laufen sie weg. Können wir die Löcher zustopfen, so behaupten wir den Ein-
bruch. Können wir der Front sagen, ihr bekommt Leute, dann gewinnt sie Ver-
trauen, und auch wir dürfen vertrauensvoll sein.
*) Das trifft natürlich im strategisch-taktischen Sinne nicht immer zu. Der
Verfasser.