Full text: Das Hamburgische Staatsrecht.

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5. Verpflichtung zur Annahme der Wahl. 
8 21. 
Eine Eigentümlichkeit des hamburgischen Staatsrechts ist es, 
daß der zum Senatsmitgliede Erwählte bei Verlust des Bürgerrechts 
verpflichtet ist, die Wahl anzunehmen. Die betreffende Vorschrift, 
welche an ähnliche Bestimmungen in einzelnen antiken Republiken 
erinnert, stammt aus alter Zeit und galt früher auch in anderen 
Reichsstädten. Hamburg übernahm sie anscheinend von Lübeck.: Eine 
ähnliche Vorschrift giebt es jetzt weder in Lübeck" noch in Bremen, 
sondern wohl nur noch in einzelnen Kantonen der Schweiz (z. B. 
Schwyz, Uri, Appenzell). 
Die Idee des Amtszwanges ist ersichtlich eine Konsequenz der 
antiken Staatsauffassung, derzufolge der einzelne Bürger nur ein Teil 
des Ganzen, des Staates, ist, und daher dieser ihm gegenüber als 
allmächtig gilt und eventuell rücksichtslos in seine Privatsphäre ein- 
greifen kann.s Die moderne Staatsauffassung aber ist eine andere. 
Sie geht davon aus, daß zwar der Einzelne sich dem Staate unter- 
zuordnen, daß aber auch der Staat die Privatinteressen des Einzelnen 
thunlichst zu berücksichtigen habe. Mit Recht hebt daher Bluntschli 
hervor: die Freiheit des Individuums, ein Amt anzunehmen oder 
auszuschlagen, sei als Regel anzuerkennen, weil kein Staatsbürger als 
solcher genötigt werden könne, „dem Staate besondere, ausgezeichnete 
Opfer zu bringen.“ Mit gleichem Recht aber spricht sich derselbe 
Autor auch gegen den Amtszwang vom rein praktischen Gesichtspunkte 
des Staates aus, „weil die Natur eines individuellen geistigen Dienstes 
einem direkten Zwange nicht gehorcht, einer mittelbaren Nötigung aber 
Westphalen, a. a. O. S. 43. Im Entwurf der Konstituantenverfassung 
von 1849 fehlt diese Bestimmung. 
In Lübeck ward sie 1875 aufgehoben. Die Verfassung von 1851 ver- 
langte noch die Annahme der Wahl bei Verlust des Bürgerrechtes und des 
zehnten Teiles des Vermögens. 
Bei den Alten dient der Einzelne dem Staate und findet in dessen Wohl 
mittelbar auch die Befriedigung seiner Zwecke; bei den Neuen ist der Staat für 
alle Einzelnen da, und er findet seinen Ruhm in dem Wohl der Bürger“. (R. 
v. Mohl, Encyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl. 1872, S. 321). 
* Bluntschli, Allgem. Staatslehre, S. 613. 
v. Melle, Hamburg. Staatsrecht. 5
	        
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