Allgemeines Wahlrecht, 723
Das Urtbeil über eine solche Aussicht kann freilich schr verschieden
sein. Der Anhänger demokratischer Meinungen wird sie mit Freude be-
grüssen. Gleich anfänglich und schon in den itzigen Zuständen wird
er darin einen grossen Fortschritt, eine unerwartet schnelle Annäherung
an sein Ideal sehen; überdiess eröffnet ihm ein solcher Anfang im Kleinen
eine ziemlich verständige Hoffnung auf frühere oder spätere Erreichung auch
des Höheren und Letzten. Noch entschiedener wird der Socialist und
Communist eine solche Zukunft billigen; ist auch sein Ziel damit noch
nicht erreicht, so kann er sich denn doch freier bewegen und unmittel-
barer wirken. Endlich wird auch der fanatische U:itranıontane eine Ein-
richtung herbeiwünschen, welche ihm erfahrungsgemü»s einen undurchkreuz-
ten Einfluss auf die grosse Menge, namentlich auf dem Lande, verspricht.
Sein kirchliches Ideal ist freilich nichts weniger als demokratisch; allein er
hofft, mit der Demokratie erst den Rechtsstaat der neueren Gesittigung
zu brechen, dann aber sie selbst, wenigstens soweit die Kirche in
Frage steht, in unbedingteın Gehorsame zu halten. \Ver dagegen in einer
reinen Volksherrschaft, zumal in den verwickelten Zuständen der neuzeitigen
Gesellschaft und in grossen Staaten, keineswegs ein Glück erblickt, wer mit
Furcht wechselnde Strömungen und Parteikämpfe von einer solchen Staats-
forn erwartet, wer ein Sinken der Gexittigung und der öffentlichen Sitt-
lichkeit von ihr besorgt, wer endlich der Ansicht ist, dass die Fehler und
Ausschweifungen der Volksherrschaft unfehlbar eine Gewaltherrschaft, und
zwar auch unter fast allgemeinem Beifalle, herbeiführen werden; wer ferner
die Priesterherrschaft verabscheuet, auf welche äussere Gewalt sie sich
stützen mag; wer endlich in den Gelüsten des Cominunismus nur Wahnsinn
und Barbarei erblickt: der kann unmöglich die breite Lücke, durch welche
der demokratische Strom hereinbrechen wird, mit Berubigung oder gar mit
Befriedigung ansehen.
Dass der Urlıeber des neuen Wahlsystemes nicht mit Denen sympathi-
sirt, welche er itzt erfreuet, und dass er nicht ihnen und ihren Erfolgen
zu lieb dasselbe eingeführt bat, ist allerdings sicher genug. Ebenso sehr
wahrscheinlich, dass er sich stark genug glaubt, um Folgerungen, welche
ihm zu weit gehen, nöthigen Falles mit aller Schärfe entgegenzutreten und
nun der Fluth Halt gebieten zu können. Er mag auch Vieles vermögen,
was ein Schwächerer und weniger Kühner weder wagte noch durchzuführen
vermöchte. Vielleicht ist also der Verlauf ein langsamerer, sogar ein theil-
weise anderer, ala man nach allgemeinen Regeln anzunehmen genöthigt ist.
Allein diess Alles ändert in der Hauptsache und auf die Dauer nichts.
Unbestritten bleibt selbst im besten Falle, dass die Einführung des
allgemeinen Stimmrechtes in Deutschland eine höchst bedenkliche, in