6 Einleitung.
Der Zerbröckelung des alten Deutschen Reiches entspricht eine stets fort-
schreitende Dezentralisation der Militärgewalt: aus dem einheitlichen
Volksheer des fränkischen Reiches entwickelt sich im 9. Jahrhundert
gleichzeitig mit dem Lehnsstaate ein Vasallenheer, und dieses verwandelt
sich im 13. Jahrhundert in ein Kontingentsheer, welches schließlich im
Laufe der Jahrhunderte als Reichsarmee völlig entartet. Andererseits
tritt mit dem Wendepunkte des deutschen Staatslebens, Anfang des
19. Jahrhunderts, auch das Heer in eine neue Entwickelungsphase; es
schließen sich die Heere der deutschen Einzelstaaten, nachdem sie völlig
auseinander gekommen, von jetzt ab nach und nach wieder zusammen.
Wie Preußen die Führung im staatlichen Neuaufbau seit 1806 über-
nimmt, so leitet es auch die Heeresreorganisation in neue Bahnen.
Es gibt nicht nur durch Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in
seinem Kontingente dem ganzen Wehrsystem, in einer dem übrigen
Deutschland zum Vorbilde dienenden Weise, eine neue Grundlage, sondern
erstrebt mit allen Kräften die Wiederherstellung einer starken, zunächst
norddeutschen Heeresmacht unter preußischer Führung. Hiervon legen
zwei Verfassungsentwürfe Preußens von 1806 und 1814 , welche die
Neuregelung der deutschen Bundesverhältnisse bezweckten und auf die
Bundeskriegsverfassung besonderen Wert legten, ebenso wie spätere
Reformpläne Preußens bezüglich der Bundeskriegsverfassung? ein be-
redtes Zeugnis ab. Scheitern diese preußischen Pläne zunächst auch
an der Eifersucht Osterreichs und an dem partikularistischen Geiste der
Einzelstaaten, so finden die in ihnen niedergelegten Ideen betreffend
der Herstellung eines starken deutschen Heeres schließlich doch in den
Verfassungen des Norddeutschen Bundes und Deutschen Reiches eine
ungeahnte Verwirklichung.
Wenn nun auch dieser Entwickelungsgang des deutschen Heeres
die Abhängigkeit der Hecresverfassung von der Staatsverfassung be-
weist, so ist doch mit der Bestimmung der bundesstaatlichen Verfassung
des Deutschen Reiches keineswegs die deutsche Heeresverfassung bestimmt;
auf keinen Fall müssen in einem Bundesstaat, entsprechend der Zwei-
heit der Staatsgewalthaber, auch zwei Inhaber der Militärgewalt
1 Entwurf von 1806 zwecks Gründung eines norddeutschen Bundes als Gegen-
gewicht gegen den Rheinbund. Hardenbergscher Entwurf von 1814, a 31—39.
: Näheres vgl. Gümbel 135, 136, 142, 143.