6 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. $ 2.
der Bekämpfung anarchistischer Bestrebungen !), die sich in der Gegenwart
zu einer internationalen Gefahr ausgebildet haben. Solchen und ähnlichen
Problemen gegenüber ist das Vertrauen des einzelnen Staats in die eigenen
Machtmittel und die Wirksamkeit seiner nationalen Institutionen nicht mehr
ausreichend; am wenigsten sind aber egoistische Strömungen und die gegen-
seitige Eifersucht der Völker hier am Platze. Es zeigt sich eben immer klarer,
daßdie realen Lebensverhältnisse der Völker eine wechselseitige
Abhängigkeit der Staaten geschaffen haben; deren Konsequenzen
legen die Erkenntnis nahe, daß die Lösung der nationalen Staatsaufgaben im
modernen Völkerleben vielfach auf die Mitwirkung der solidarisch interessierten
Staaten hinweist. Im übrigen kann vom juristischen Standpunkte aus von
einer wirklichen Einbuße an der eigenen Selbständigkeit und Unabhängig-
keit des Staats im Bereich seiner völkerrechtlichen Wirksamkeit überhaupt
nicht die Rede sein, denn alles was der Staat im Hinblick auf den Schutz und
die Pfiege solidarischer Interessen an Verpflichtungen auf sich nimmt, sei es
durch Anerkennung von Normen konstanten Verhaltens gegenüber den übrigen
Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft oder durch Übernahme der Pflicht
zu individuellen Leistungen, wurzelt in letzter Reihe gerade in seiner Selb-
ständigkeit und Unabhängigkeit — in seiner Souveränetät und in seiner
freien völkerrechtlichen Persönlichkeit. Kraft der Souveränetät
und der damit gegebenen Fähigkeit, den eigenen Willen durch autonome Akte
zu beschränken, ist überhaupt die juristische und praktische Möglichkeit einer
Ordnung der Lebensverhältnisse der Staaten und Völker und der Erfüllung
jener kollektiven Aufgaben gegeben, welche die immer intensiver hervor-
tretende Solidarität der Interessen Verkehr pflegender Staaten hervorrufen. ?)
In dieser Solidarität liegt aber zugleich eine der sachlichen Garantien gegen
etwa befürchtete Einbußen an der eigenen Unabhängigkeit und Selb-
ständigkeit, da eine gegenseitige Bindung hier doch nur unter der Voraus-
setzung gleicher Lage der Beteiligten gegenüber betreffenden Verhältnissen
stattfinden wird. Während in älterer Zeit Normen für das gegenseitige Ver-
halten der Staaten fast ausschließlich mit Bezug auf die aus feindlicher Be-
rührung der Völker entspringenden Verhältnisse, also in der Sphäre der
Machtentfaltung und Geltung gegenüber anderen Nationen sich bilden, ist
heute die rechtliche Ordnung der internationalen Verhältnisse wesentlich in
den Dienst der friedlichen Entfaltung der Staatskräfte im Bereich der ver-
schiedenen Zweige des Staatszwecks gestellt... Die heutige internationale
Rechtsordnung ergänzt die staatliche Rechtsordnung und sichert den Funk-
tionen der letzteren eine intensivere Wirksamkeit — entsprechend den tat-
sächlichen Verhältnissen, die eben vielfach internationale Beziehungen aufweisen.
$ 2. Begriff des Völkerrechts.?) Nach dem Gesagten ist die geschicht-
il) Siehe den Aufsatz von Diena, Les delits anarchistes et l’extradition in der Revue
generale de dr. intern. II p. 306.
2) Nippold a.a.0. 50ff.
3) Hoffter 88 1-5; v. Holtzendorff, HH IS. 1ff.; Bluntschli 8$ 1—16; von
MartensI S.1ff.; Hartmann S. 1ff.; Gareis $ 1ff.; v. Liszt $ 1; v. Bulmerincy, H