Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

82. Begriff des Völkerrechts. 7 
  
liche Entwicklung des Lebens der Völker in ihren gegenseitigen Beziehungen 
von dem stetig hervortretenden und auf den höheren Stufen der Zivilisation 
mit dem Bewußtsein des Zwecks sich geltend machenden Streben nach äußerer 
möglichst wirksamer Ordnung jener Beziehungen und der mit denselben ver- 
knüpften Gemeinverhältnisse beherrscht. Die allseitige Erkenntnis der Not- 
wendigkeit einer solchen Ordnung führte im Laufe der Zeit zur Anerkennung 
von Regeln für das Verhalten der Staaten und Völker in ihren Lebensbe- 
ziehungen. Die wesentlich von der Anerkennung der beteiligten Staaten ge- 
tragene Geltung jener Regeln bildet die Voraussetzung und Grundlage der 
praktischen Herrschaft der Ordnung der internationalen Gemeinverhältnisse 
sowie die materielle Garantie der Integrität aller jener Interessen, die recht- 
lichem Schutze zugänglich und eines solchen bedürftig sind. 
Ausgangspunkt und Grundlage der logischen Entwicklung des Begriffs 
des Völkerrechts sind dieselben wie für den Begriff des Rechts im allge- 
meinen: die Erscheinungen des menschlichen Gemeinlebens. Daran ändert 
also der Umstand nichts, daß die beteiligten Subjekte keiner organisierten, 
Recht bildenden Autorität unterworfen sind und die der rechtlichen Ordnung 
bedürftigen Gemeinverhältnisse nicht einen Bestandteil politisch abgeschlossenen 
(semeinlebens bilden. Der Unterschied der nationalen und der internationalen 
Geheimverhältnisse schließt nicht aus, daß die letzteren, wenngleich in anderer 
Art und mit eigenartigen Modalitäten, ebenso wie die ersteren, rechtlicher 
Regelung zugänglich sind. — Die Erscheinungen des Gemeinlebens der Völker, 
mit denen jene Gemeinverhältnisse verknüpft sind, sind Tatsachen und Tat- 
sachenkomplexe, hervorgerufen durch sozial maßgebende Willensfaktoren; als 
Willlensäußerungen sind sie daher kausal bestimmt durch Anschauungen über 
die Zweckmäßigkeit, Vernunftnotwendigkeit und ethische Zulässigkeit be- 
treffender Handlungen, in denen sich das Gemeinleben abwickelt. Schon der 
Umstand, daß die Vorgänge des internationalen Lebens ebenso wie jene des 
nationalen auf kausales Bestimmtwerden durch menschliche Handlungen hin- 
weisen, läßt die Geltung von Normen für menschlichen Willen als treibende 
und ordnende Kraft auch im internationalen Leben erkennen. Wer die 
Kriterien des Rechts nur der heute im Staate annähernd am vollständigsten 
verwirklichten Rechtsordnung entnehmen zu dürfen glaubt, wird den Normen 
des internationalen Lebens den Rechtscharakter absprechen und ihnen lediglich 
den Wert von vernünftigen Maximen der Sitte‘) und Zweckmäßigkeit beimessen. 
Allein das höhere Maß der Ausbildung der Normen des nationalen Gemein- 
lebens kann nicht als maßgebender Faktor der Differenzierung des Rechts 
von anderweiten Normen menschlichen Gemeinlebens erscheinen, da ja auch 
  
88 1—4, 12; Bivier S.1ff.: Calvol S. 139ff. und Manuel 8. 69ff.; Funck-Brentano, 
Precis du droit des gens p. 1ff.; Holland, The elements of jurisprudence (5 ed.) p. 838ff. 
Vgl. auch A. Merkel, Jurist. Enzyklopädie $ 827; OppenheimI $1. 
1) So sagt Lasson, Prinzip und Zukunft des Völkerrechts, S. 52: „Das Völkerrecht 
ist kein Recht, keine Moral der Staaten, aber gewissermaßen und in manchem seiner Teile 
eine Staatensitte, natürlich Sitte nicht im Sinne von Sittlichkeit, sondern eines gewohnbeits- 
mäßigen und der allgemeinen Meinung entsprechenden Tuns genommen“
	        
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