142 Zweites Buch. Die Subjekte des Völkerrechts. $ 38.
die Anerkennung gewisser angeborener und unveräußerlicher Rechte des In-
dividuums bildet, die zugleich eine unverrückbare Schranke der Entfaltung
der Staatsgewalt bedeuten. Analog bedeuten die Grundrechte der Staaten
die Grundlage der internationalen Ordnung und die absolute Schranke der
Wirksamkeit völkerrechtlicher Normen. In jener Unterscheidung absoluter
und hypothetischer Rechte der Staaten kommt daher der von naturrechtlichen
Anschauungen beeinflußte Gedanke einer doppelten Kategorie internationaler
Normen zum Ausdruck: einer übergeordneten, aus der Natur des Staates auf
deduktivem Wege konstruierten unwandelbaren Ordnung und dem positiven,
von dem Willen der Verkehr pflegenden Staaten geschaffenen Völkerrecht,
welches letztere dem ersteren unbedingt untergeordnet ist und diesem als un-
verrückbare Schranke gegenübersteht. Jene naturrechtlichen Anschauungen
liegen auch der Erklärung der Menschenrechte in der französischen National-
versammlung von 1789 (ergänzt durch den Konvent 1793) und dem Antrag
des Abb& Gregoire vom 23. April 1795 auf Annahme der Declaration du
droit de gens zugrunde und spielen in der folgenden Epoche in den Ver-
tassungsurkunden der konstitutionellen Staaten eine bedeutsame Rolle. Unter
der Rubrik absolutes Völkerrecht werden Rechte in Betracht gezogen, welche
einem jeden Staat seinem Begriffe nach im Völkerverkehr zustehen,
die sich also jeder Staat ohne weiteres beilegt, die jedem Staat ohne eine
Konzession seitens anderer Staaten oder olıne Vertrag mit anderen Staaten
zustehen. Da jeder Staat seinem Begriffe nach ein Gemeinwesen, eine juri-
stische Person ist, so bezeichnet man sein absolutes Recht wohl auch als
Recht der völkerrechtlichen Persönlichkeit. Dieses absolute Recht — zunächst
als ein Komplex von Attributen gedacht — wird dann in eine Reihe von ein-
zelnen absoluten subjektiven Rechten, welche Ausfluß der Staatspersönlichkeit
in bezug auf den Völkerverkehr sind, und als sog. Grundrechte!) be-
zeichnet werden, aufgelöst. Wie wenig sicher die Grundlage dieser Kon-
struktion ist, ergibt sich aus dem Umstand, daß sich die Differenzierung ein-
zelner sog. Grundrechte bei verschiedenen Schriftstellern in verschiedenem
Umfang und auch inhaltlich verschieden vollzieht 2): einige rechnen hieher
nur das Recht der Selbsterhaltung und das der inneren Selbständig-
keit und Unabhängigkeit; bei anderen findet sich ein umfangreicherer
Katalog, indem als Grundrechte auch bezeichnet werden: das Recht der
Gleichheit, das Recht der völkerrechtlichen Ehre (Recht auf Achtung)
1) Ausführungen über die Grundrechte siche insbes. bei v. Holzendorff, HH II S. 47ff.;
E. v. Martens I, 293 ff.;, Rivier, Lehrbuch $ 20 ff., wo wit der Darstellung der einzelnen
Rechte auch die wechselseitigen Einschränkungen in Folge der internationalen Gemeinschaft
ihre Erörterung finden. Desselben „Principes“ I p. 255 sg. Siche auch die Ausführungen
bei Gareis, $ 24 ff.
2) Siehe darüber neuestens die gründlichen kritischen Ausführungen bei Cavaglieri
l.c. 29sq. Einer der neueren Anhänger der Theorie der Grundrechte Pillct, Recherches sur
lcs droits fondamentaux des Etats etc. sagt einerseits: Ce sont les prerogatives essentielles des
nations, les branches de l’arımature qui soutient le systöme gen6ral de leurs droits et de leurs
devoirs r&eeiproques; anderseits hebt er besonders hervor: ll est ä peu pr&s sans exemple, que
l’Cnume6ration de l’un soit identique & celle de l’autre.