144 Zweites Buch. Die Subjekte des Völkerrechts. $ 38.
Nach Jellinek!) enthält der Katalog der völkerrechtlichen Grundrechte
nichts als eine Tautologie, denn er besage nichts anderes, als daß der
Staat das Recht habe, Staat zu sein und daß, kraft der iım gewährten An-
erkennung, kein Staat ein Recht habe, einen anderen in der Betätigung seiner
notwendigen Funktionen zu hindern; juristisch ließen sich diese angeblichen
Rechte in den Satz zusammenfassen, daß kein Staat rechtlich von dem an-
deren etwas fordern oder ihn rechtmäßig zu etwas zwingen darf, als auf
Grund eines Rechtssatzes. Einer eingehenden Kritik unterwirft Heilborn?)
die einzelnen Grundrechte mit dem Ergebnis, daß der juristische Imhalt dieser
Materie unter anderweite Kategorien im System des Völkerrechts zu sub-
sumieren ist, der naturrechtliche und politische Inhalt dagegen ausgeschieden
werden muß. Besonders eingehende Kritik erfährt das Recht der Selbst-
erhaltung?); es wird gewöhnlich aufgefaßt als Anspruch auf Unterlassung
aller Verletzungen und als die Befugnis zur Ergreifung aller Maßregeln,
welche zur eigenen Selbsterhaltung notwendig sind. In letzterer Beziehung
spricht man zunächst von einem jus armorum (Wehr- und Waffenrecht), d. i.
das Recht, als kriegsführungsberechtigt zu gelten und sich durch militärische
Rüstungen aller Art gegen mögliche Gefahr vorzubereiten (z. B. durch An-
schaffung von Kriegsmaterial, Waffenvorräten, Kriegsflotten, Aufstellung von
Truppen über den sog. Friedensfuß, Anlegung und Armierung von Festungen,
Abschließung von Kriegsbündnissen u. s. w.). Indessen alle diese Maßregeln
fallen unter den Gesichtspunkt der völkerrechtlich nicht beschränkten Frei-
heit der Mitglieder der internationalen Gemeinschaft und bilden einen Teil
der inneren Staatsangelegenheiten (vgl. auch Heilborn System 288); Be-
schränkungen dieser Freiheit setzen einen individuellen rechtlichen Titel vor-
aus. Unter den Gesichtspunkt von Maßregeln zur Selbsterhaltung wird aber
noch anderes subsumiert; soz.B. von v. Holtzendorff*!) die Suspendierung
der Freiheitsrechte durch erweiterte Verhaftungsbefugniß, ohne daß die aus-
wärtigen Mächte befugt wären, die zu Zeiten der Gefahr gewählten Aus-
ditionellen Lehre; allein im Ergebnis steht Pillet doch auch auf dem Boden dieser Lehre,
da auch er mit dem methodisch unzutreffenden Gedanken einer Duplizität des positiven Völker-
rechts und gewisser, auf spekulativem Wege gewonnener Normen operiert. Der einzig richtige
Standpunkt der Jurisprudenz gegenüber der vorliegenden Frage aber kann, wie ich wieder-
holt betont habe, doch nur in der prinzipiellen Ablehnung jener Duplizität und der durch-
greifenden Anerkennung der Einheit alles Rechts als positiven Rechts gefunden
werden. — Pillet anerkennt gewisse Grundrechte; die Ergebnisse seiner Untersuchung
wenden sich nur gegen die üblichen Klassifikationen der einzelnen sog. Grundrechte. Seine
Kritik ist also eine wesentlich negative. Anderseits betont er doch auch den einzig
richtigen Ausgangspunkt in der vorliegenden Materie: die gegenseitige Anerkennung der Staaten
als Rechtssubjekte.
1) System S. 302 ff.
2) System S. 280 ff.; vgl. dazu auch Beling in der Krit. Vierteljahrsschrift 3. F. 1 S. 615.
3) Eine eingehende Kritik des sog. Selbsterhaltungsrechts bietet neuestens Cavaglieri
l.c.35sq. insbesondere im Hinblick auf die mit jenem Rechte zusammenhängende Theorie des
politischen Gleichgewichts. Siehe auch Desselben Ausführungen über die Clausula rebus
sic stantibus und das Selbsterhaltungsrecht 1. ec. 39 und Archivio giuridico 19083.
4) AH II S. 54.