8 71. Die Staatsverträge. Begriff und Natur der Staatsverträge. 251
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Kraft der Verträge ist eine ethische. Das Moment der sittlichen Pflicht
beherrscht das sittliche Handeln der Menschen; '!) dieser sittlichen Pflicht kann
sich auch der Staat nicht entziehen, da die Realisierung des Gemeinzwecks
Realisierung des Gemeinwillens ist, in dem Gemeinwillen aber menschlicher
Individualwillen nicht nur die Grundlage der Bildung des ersteren, sondern
zugleich auch das Medium der Betätigung bedeutet. Der Wille der als staatliche
Organe fungierenden Einzelpersonen, die berufen sind, namens der juristischen
Persönlichkeit des Staates die praktische Betätigung des Gemeinwillens durch
ihre eigenen Handlungen zu vermitteln, sind in dieser ihrer Stellung als Organe
in vollem Umfange an die Forderungen von Treue und Glauben im Verkehre
gebunden; die sittlichen Grundlagen des menschlichen Handelns können in der
ethisch bedeutsamsten Erscheinung menschlichen Zusammenlebens — im Staate
— keine Einschränkung erfahren; ihre Bedeutung erfährt vielmehr eine
Steigerung: der gesetzlich normierte Erfüllungszwang hat, wie jeder staatliche
Imperativ, in erster Reihe die Bedeutung einer Verstärkung der Motive recht-
gemäßen Handelns. Bezüglich der verpflichtenden Kraft der Staatenverträge fehlt
allerdings die dem nationalen Recht eigentümliche Sanktion; sie fehlt aber im
Völkerrecht nicht überhaupt. Ferner darf vom Standpunkte der praktischen
Erhaltung geordneten Staatenverkehrs das seinem Wesen nach allerdings nur
utilitarische Moment nicht unterschätzt werden, welches in dem Interesse der
einzelnen Glieder der Staatengemeinschaft seine Wurzel hat. Mißachtung
fremder Interessen durch Verletzung von Treue und Glauben im Verkehr
schafft namentlich innerhalb der vielgestaltigen und komplizierten Verkehrs-
und Interessenbeziehungen der Staaten allemal eine heute kaum mehr ab-
zuwehrende Gefahr für die eigenen Interessen; Staaten die in der Erfüllung
übernommener Verbindlichkeiten nicht gewissenhaft vorgehen, leugnen die
fundamentalste Voraussetzung rechtlich geordneten Verkehrs und ihrer Teil-
nahme an der völkerrechtlichen Gemeinschaft; ihr Verhalten ist um so wider-
spruchsvoller, als die um des, eigenen egoistischen Interesses willen erfolgte
Mißachtung fremder Interessen eine der wichtigsten Bedingungen des eigenen
Wohles — die im heutigen Völkerleben praktisch so stark hervortretende
Ergänzung der nationalen Mittel der Erreichung des Staatszwecks durch die
Mittel, welche der geordnete Völkerverkehr bietet, zerstört. — Schließlich sei
noch folgendes hemerkt: während in der Zeit vor der Ausbildung des modernen
Völkerrechts die zumeist auf Streitfälle sich beschränkenden Verträge die
individuellen und im übrigen isolierten Interessen der Beteiligten in den
Vordergrund stellen, kennt das moderne Völkerrecht Verträge, deren Ausgangs-
punkt die Gesamtinteressen der Völkergemeinschaft bilden, die also auf einem
viel breiteren, dem Gutdünken und der Willkür der Kontrahenten entzogenen
Boden sich bewegen und um deswillen die Garantie ihrer Erfüllung in erhöhtem
Maße in sich tragen. Die Macht geregelter Verhältnisse selbst ist es,
die Formulierung des Geltungsgrundes bei F. v. Martens 1 S. 390; Bluntschli, Völker-
recht $ 410; Rivier, Lehrb. $ 47. — Vgl. auch Triepel, Völkerrecht und Landesrecht 82.
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ı) Vgl. Oppenheim I, $ 493, Nippold, Der völkerr. Vertrag, $ 11.