$ 77. 3. Die freie Willensbestimmung der Kontrahenten. 263
— ———— nn —-
Die Ausschaltung des Zwanges als eines die Gültigkeit des Vertragsabschlusses
ausschließenden Faktors ist im Völkerrecht in der Tat unmöglich; man käme
sonst insbesondere bei Friedensverträgen zu dem absurden Ergebnis, daß der
Krieg bis zur totalen Vernichtung des Gegners weiter geführt werden und
sohin eine Sachlage (Debellatio) geschaffen werden müßte, in der doch be-
kanntlich eine Beendigung des Krieges durch Vertrag ausgeschlossen ist. Auch
der Vertrag, der mit einem gefangenen Souverän geschlossen wird, ist gültig,
wenn die Willenserklärung nicht durch Nötigung, Bedrohung oder Ein-
schüchterungen herbeigeführt wurde!), Der im Wege der Selbsthilfe zur
Geltendmachung oder Verteidigung eines legitimen Interesses geübte Zwang
sei ein rechtsmäßiger, da Selbsthilfe auf dem Gebiete des Völkerrechts nicht
ausgeschlossen ist. Allein einer Beschränkung des den Vertrag nicht hindernden
Zwangs auf einen rechtmäßigen ständen „große praktische Schwierigkeiten
entgegen, da eine objektive Entscheidung über die Rechtmäßigkeit völker-
rechtlichen Zwanges nicht vorhanden ist, so lange die Staaten Richter in
eigener Sache sind. Mit der Aufnahme des Merkmals der Rechtmäßigkeit
stellt man es faktisch in das Belieben des besiegten Staates, ob er sich durch
einen Friedensvertrag gebunden erachtet oder nicht, oder vielmehr, man er-
klärt dadurch die Friedensverträge für unverbindlich, denn der Fall, daß ein
Staat von dem Recht des Gegners und seinem eigenen Unrecht, das den Krieg
provoziert hat, überzeugt wäre, zählt zu den allerseltensten in der Geschichte 2).
Jene Theorie der Verbindlichkeit der Friedensschlüsse hat eine Art von
Vorbild darin gehabt, daß man im Mittelalter die Verträge gefangener Fürsten
oder Edelleute über Auslösungsgelder schon für verbindlich d. h. als eine
Ehrenschuld betrachtete. In ähnlicher Weise muß sich auch der Staat, der mit
einem gefangenen Souverän einen Friedensvertrag schließt, auf dessen persön-
liche Ehrenhaftigkeit, bezw. darauf verlassen, daß er demselben erträgliche
Friedensbedingungen gemacht hat, welche einzuhalten der Gefangene auch
nach seiner Befreiung ein Interesse haben kann.
Was den Einfluß von Irrtum und Betrug anlangt, so ist in ersterer
Beziehung nur wesentlicher Irrtum) geeignet, das Zustandekommen einer
den wahren Staatswillen bekundenden Willenserklärung auszuschließen. Der
Irrtum muß ferner entschuldbar sein‘). Die Wirkung einer von Irrtum
trahenten anderseits. Nur im ersteren Falle könne der Zwang den Bestand völkerrecht-
licher Verträge in Frage stellen. Indessen: der gegen den ratifizierenden Faktor geübte Zwang
ist nach dem oben Gcsagten ein gegen den Kontrahenten selbst ausgeübter Zwang. Vgl.
übrigens auch Nippold.a.a. 0. S. 173.
1) So war der Friedensvertrag Franz’ I. von Frankreich mit Karl V. 1520 rechts-
beständig; ebenso die Thronentsagung Napoleon’s I. zu Fontainebleau 1814; ebenso hätte
mit Napoleon IlI. auf Wilhelmshöhe der Friedensvertrag abgeschlossen werden können, wenn
nicht inzwischen eine andere Regierung zur Vertretung des Staates an seine Stello getreten
wäre. Vgl. Leopold Neumann, Grundriß S. 65; F. v. Martens I S. 404.
2) Jellinok, Staatenverträge S. 61.
3) Vgl. Berner a. a. O. S. 658; Heffter-Geffeken a. a.0.; F. v. Martens I
S. 403,
4) Ob der Irrtum unverschuldet sein muß, könnte nach Nippold (a. a. O. S. 177) für
das öffentliche Recht fraglich erscheinen; die Frage wird aber nicht weiter verfolgt.