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die in dem Vertrage erfolgte Erklärung des Willens an die Sprache geknüpft
ist, so kommt es wesentlich darauf an, den wahren Sinn der gebrauchten Worte
zu ernieren, in denen der Wille (die Absicht) der Kontrahenten zum Ausdruck
gekommen ist. Formell anerkannte Regeln der Interpretation kennt das Völker-
recht nicht. In letzter Reihe sind die Regeln der Auslegung Gegenstand der
allgemeinen Rechtslehre.. Als leitenden Grundsatz der Interpretation von
Völkerverträgen wird man die Anwendung wissenschaftlich anerkannter
Regeln der Feststellung des Sinnes von Willenserklärungen und Vertrags-
willenserklärungen überhaupt und der durch die spezifische Natur der Staats-
verträge in der Praxis entwickelten Regeln hinstellen dürfen. Es liegt nahe,
daß die Herrschaft des römischen (bezw. gemeinen) Rechts bei den Kultur-
völkern sich auch in der Frage der Auslegung der Völkerverträge geltend
gemacht hat und damit die vielfach einseitige Verwertung privatrechtlicher
Interpretationsregeln in Übung gekommen ist. ')
II. Bei der Feststellung des Sinnes der Worte werden außer anerkannten
Regeln der Grammatik jene des Sprachgebrauchs Berücksichtigung finden
müssen. In dieser letzteren Beziehung wird immer nur der gewöhnliche, nicht
ein, wenngleich zuweilen vorkommender, aber im übrigen unzulässiger (weil
dem Geiste und der Struktur der betreffenden Sprache nicht entsprechender)
Sprachgebrauch Anwendung finden dürfen. Für die Festellung des Sinnes
einer einzelnen Bestimmung bezw. des ganzen Inhalts des Vertrages wird in
Fällen des Zweifels jedenfalls immer auch der Zusammenhang des betreffenden
Rechtsverhältnisses mit anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts in’s Auge
zu fassen sein. Die Kontrahenten regeln ihre Beziehungen heute auf dem
Boden der völkerrechtlichen Gemeinschaft; bezüglich der im Verkehr am meisten
hervortretenden Verhältnisse und Beziehungen haben rechtliche Maximen An-
erkennung gefunden, die in jedem neuen Falle der Anknüpfung betreffender
Beziehungen unmöglich ignoriert werden können; liegt doch der Wert inter-
nationaler Verträge, abgesehen von dem konkreten Zwecke, dem sie dienen,
in der Äußerung gleichmäßiger rechtlicher Anschauung und Anerkennung
betreffender Grundsätze als Regeln des Völkerrechts. Technische Ausdrücke
sind in dem Sinne, der in dem betreffenden Wissensgebiet von Fachleuten dem
Ausdruck beigelegt sind, zu nehmen. Mehrdeutige Ausdrücke sind in dem
Sinne zu nelımen, der mit der Absicht der Kontrahenten, einen gültigen
Vertrag zu schaffen, in Einklang stelıt. Zweifelhafte Vertragsbestimmurgen
sind in dem die verpflichtete Partei am wenigsten drückenden Sinne aufzufassen.
Verzichte sind nicht zu vermuten. Im ganzen ist aber die Interpretation von
Staatsverträgen von der Natur dieser Verträge als bonae fidei negotia beherrscht:
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Vattel, Droit des gens lib. II ch. 17; Wildmann |. c. p. 175sq.; Heffter-Geffcken
$ 95; Geßner, HH III S. 76ff.; Hartmann S. 148 ff.; F. v. Martens IS. 423 ff.; Rivier,
Lehrb. $ 53; Jollinek, Staatenverträge S. 64: Phillimore I. c. 11 p.86 sq.; Pradier-
Foderoö, Traite Il $$ 1171 sq. (ausführlich); Piedeli@vre, Precis I p. 306 sq.
1) Die Austrägalgerichte des ehemaligen Deutschen Bundes hatten das gemeine Recht,
soweit es noch auf die Verhältnisse der Bundesstaaten anwendbar war, anzuwenden. Wicner
Schlußakte Art. 23, Austrägalordnung vom 16. Juni 1817 III, 7.