296 Fünftes Buch. Das Staatsgebiet. Das offene Meer. Die intern. Flüsse etc. 8 59.
zugänglich. Konventionelles Recht hat bezüglich wichtiger Meerengen
besondere Normen geschaffen; so insbesondere bezüglich des Bosporus und
der Dardanellen durch Art. 10 des Pariser Vertrages von 1856!) und den
Londoner Vertrag von 1871. In Art.7 des Friedens von Adrianopel vom 2./14.Sep-
tember 1829 anerkennt die Pforte den Grundsatz der Freiheit des Handels und der
Schiffahrt im schwarzen Meer und die Freiheit der Durchfahrt durch
dieMeerengen für dieHandelsschiffe aller Flaggen. Dagegen waren
fremde Kriegschiffe ausgeschlossen — ein Grundsatz, der in Art. 1 des Londoner
Vertrags vom 10. Juli 1841 (Großbritannien, Österreich, Preußen, Frankreich,
Rußland, Türkei) förmliche Anerkennung fand. Die neuerliche Bekräftigung
dieses Grundsatzes erfolgte durch Art. 10 des Pariser Friedens 1856 (und
Annex I zu diesem Vertrage) und Art. 2 des Londoner Vertrages vom 13. März
1871. Nach diesem letzteren Vertrage ist die Pforte berechtigt, in Friedens-
zeiten den Kriegschiffen befreundeter und allierter Mächte die Meerengen zu
öffnen, falls sie solches für nötig erachten sollte, um die Ausführung der
Stipulationen des Pariser Vertrages von 1856 sicherzustellen. ?) Infolge des
Grundsatzes, daß Schiffe, welche die Handelsflagge tragen, die freie Durch-
fahrt durch die Meerengen genießen, wurde in der Zirkularnote°) der Pforte
an die Vertreter der Türkei vom 19. September 1891 ausdrücklich erklärt, daß
auch die Paketboote der russischen freiwilligen Flotte im schwarzen
Meer, die den Dienst zwischen Odessa und den russischen Besitzungen im
äußersten Osten besorgen, dieselbe Freiheit genießen. Dies ist nach dieser
Zirkularnote auch dann der Fall, wenn diese Schiffe Soldaten oder Deportierte
an Bord haben; nur bedarf es in solchen Fällen einer ausdrücklichen Gestattung
der Durchfahrt durch kaiserliche Irade.
Das Institut für internationales Recht hat über Meerengen folgende
Beschlüsse gefaßt: Meerengen, deren Breite die Zwölfmeilendistanz nicht über-
schreitet, stehen unter der Hoheit des Uferstaates, bezw. bis zur Mitte unter
der Hoheit verschiedener Uferstaaten (Art. 10, Ziffer 1, 2); Meerengen, welche
die Verbindungsstraße zwischen zwei offenen Meeren bilden, können niemals
abgesperrt werden (Art. 10, Ziffer 3). (Konventionelles und Gewohnheitsrecht
soll unberührt bleiben — Art. 11).)
$ 89. Fälle der Konkurrenz der Hoheitsrechte mehrerer Staaten.
Innerhalb eines Staatsgebiets kann nur eine Staatsgewalt sich betätigen.
Scheinbare Ausnahmen ergeben sich auf Grund singulärer Verhältnisse. Hier-
her gehören vor allem die Fälle des sog. Kondominiums (Koimperium).
Unter Kondominaten versteht man Gebiete (Land- oder Wassergebiete), welche
von zwei oder mehreren Souveränen gleichberechtigt beherrscht sind. Der
1) Hier wird die von der Türkei seit jeher geübte Absperrung der Meerengen für fremde
Kriegsschiffe als alte Regel anerkannt, so lange sich die Türkei im Friedenszustand befindet.
2) Über die Bedeutung obiger Verträge für die im Interesse Europas liegende Erhal-
tung des Besitzstandes der Türkei vgl. im ganzen Perels, Intern. Scerecht 28 ff.
3) Ein russisch-türkischer Vertrag liegt nicht vor. Vgl. Näheres bei Fleischmann
265, Anm. 1. 4) Annuaire XIII p. 330, 331.