& 89. Fälle der Konkurrenz der Hoheitsrechte mehrerer Staaten. 297
Anlaß der Entstehung solcher singulären Konkurrenz mehrerer Staatsgewalten
liegt in der politischen und juristischen Schwierigkeit, die durch einen völker-
rechtlichen Vorgang herbeigeführten Beziehungen mehrerer Staaten zu einem
Staatsgebiet oder Gebietsteil in definitiver Weise zu regeln. Die Schaffung
des Kondominates fungiert betreffenden Schwierigkeiten gegenüber als ein
Notbehelf; daher sind derlei Kondominate in neuerer Zeit durchweg das
vorübergehende Ergebnis politischer Vorgänge, das einer irgendwie sich
vollziehenden Herstellung des normalen Zustandes zustrebt. Bezüglich der
Ausübung der Staatsgewalt muß durch Übereinkommen der beteiligten Staaten
das Erforderliche verfügt sein: es muß für eine von der Herrschaft der beteiligten
Staaten verschiedene Herrschaft gesorgt werden. Beispiele bieten die gemein-
schaftliche Hoheit Preußens und des Fürstentums Lippe über Lippstadt,
das Kondominat Österreichs und Preußens über Schleswig-Holstein
und Lauenburg auf Grund des Wiener Vertrages vom 30. Oktober 1864.
Dieses letztere Verhältnis erlosch bezüglich Lauenburgs durch den Gasteiner
Vertrag (1865), bezüglich Schleswig-Holsteins durch den Prager Frieden vom
26. August 1866. Ein Kondominat besteht bezüglich des Gebiets von Moresnet
an der belgisch-preußischen Grenze, !) dessen Entstehung damit zusammenlängt,
daß Preußen und Belgien sich über die Interpretation des preußisch-nieder-
ländischen Grenzvertrags von 1815 nicht einigen konnten. — Ferner sind an-
zuführen die Kondominate Englands und Egyptens über den Sudan (Vertrag
vom 4. Januar 1899),2) Frankreichs und Großbritanniens über die Neuen
Hebriden (1878, organisiert 1906).3) Unter dem Kondominium Deutschlands,
Englands und der nordamerikanischen Union standen auch die Samoa-Inseln
(Vertrag vom 14. Juni 1899, aufgelöst 2. Dezember 1899).
Singulärer Natur sind ferner folgende Verhältnisse: auf Grund des Berliner
Vertrags 1878 erfolgte die Besetzung und Administration von Bosnien
und der Herzegowina durch die österreich-ungarische Monarchie (Art. 25),
während die Souveränetät (allerdings nur als nudum jus) dem Sultan belassen
wurde.) Dieser Fall, wie auch die unter einer Resolutiv-Bedingung (1878)
erfolgte Übertragung der Verwaltung der Insel Cypern an England werden
mehrfach als Fälle verschleierter Gebietszession beurteilt. Indessen kann doch
in diesen Fällen, wie auch in den Fällen der Verpfändung und Verpachtung
eines Teils des Staatsgebiets die praktische Bedeutung des Vorgangs und der
nicht kundgegebene politische Zweck für die juristische Charakterisierung nicht
den Ausschlag geben. Der Inhalt der Verträge, auf denen jene Übertragung
der Verwaltung beruht, wie auch jener Verträge, durch die Teile von Staats-
gebieten verpachtet bezw. verpfändet wurden, bietet jedenfalls keinen Anhalts-
punkt für die juristische Charakterisierung der betreffenden Vorgänge als Akte
des aktiven Gebietserwerbs. Derlei singuläre Verhältnisse schaffen allerdings
1) Schroeder, Das grenzstreitige Gebiete von Moresnet (1902).
2) Vgl. RG VI, 169 sq. 3) Politis RG VIII, 121 sq. und XIV. 689 sg.
4, Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen 53 und Staatslehre 597, Schneller, Die staats-
rechtliche Stellung von Bosnien und Herzegovina 1902; Rivier RXI, 144 sq.; F. v. Martensl],
862; Lingg A. f. ö. R. 1889 S. 480; v. Liszt $ 10.