84 Positivität des Völkerrechts. 23
gebende Vorfrage, ob der Zwang ein Begriffsmerkmal des Rechts über-
haupt sei, kann hier nur berührt werden. Moral, Sitte und Recht wenden
sich mit ihren Imperativen an den Willen des Menschen und fordern ein be-
stimmtes Verhalten. Während aber die Moralvorschriften zunächst die Ge-
sinnung des Menschen zu bestimmen suchen und der Wert der menschlichen
Willensäußerungen im Gebiete der Moral in der sittlichen Gesinnung zu er-
blicken ist, bezwecken Sitte und Recht ein äußeres Verhalten der Menschen
in Gemeinverhältnissen, ohne welches ein geordnetes und friedliches Zusammen-
leben und der Bestand des Gemeinlebens nicht möglich wäre. Stellt die Moral
die höchste Anforderung an den Menschen, indem sie nur sittliche Motive des
Handelns und äußeren Verhaltens anerkennt, so begnügen sich Sitte und
Recht mit einem den Bedingungen menschlichen Gemeinlebens entsprechenden
Verhalten. Während die sittliche Gesinnung ihrer Natur nach jeden äußeren
Zwang ausschließt, sind Sitte und Recht dem äußeren Zwang allerdings zu-
gänglich. Die Differenzierung dieser drei Gruppen von Forderungen an das
Verhalten der Menschen bedeutet aber nicht eine Negierung ihrer gemein-
samen ethischen Wurzel: jene Differenzierung schafft keineswegs ein Ver-
hältnis der Gegensätzlichkeit, sondern nur das der Selbständigkeit dieser For-
derungen; das Recht findet vielmehr seine wirksamste Stütze in der Sittlich-
keit der Rechtsgenossen. Es ist in der Tat eine Verkennung der sittlichen
Würde des Menschen, wenn das Rechtsleben und die soziale Ordnung in thesi
an das Vorhandensein oder gar die konstante Wirksamkeit von Zwang und
äußerer Macht geknüpft werden. Die mit dem Rechte eng verknüpfte ethische
Idee der Selbstbeherrschung und Selbstbeschränkung aus sittlichen Motiven
gibt dem Leben des Einzelnen wie dem sozialen Leben im Ganzen einen er-
höhten Wert. Da die Herrschaft des Rechts jedenfalls dann am meisten ge-
sichert ist, wenn die Forderungen des Rechts um ihrer selbst willen erfüllt
werden, so widerspricht es nicht dem Wesen des Rechts, den Appell der recht-
lichen Imperative an den menschlichen Willen in einer sachlichen Beziehung
zur sittlichen Gesinnung zu denken. Erst die praktische Unwirksamkeit der
Forderungen des Rechts an den menschlichen Willen ruft in der Sphäre des
sozialen Lebens die Notwendigkeit hervor, gegenüber dem unbotmäßigen Willen
des Einzelnen die Macht des Gemeinwillens zur Geltung zu bringen. Die
sittliche Natur des Menschen und die mit der notwendigen Stellung des Ein-
zelnen im Gemeinleben sich aufdrängende Erkenntnis der Unentbehrlichkeit
von Normen für das äußere Verhalten !) sichern inerster Reihe dem Rechte
praktische Wirksamkeit, und zwar in dem Maße, daß die freiwillige Beobachtung
der Rechtsbefehle 2) die Regelerscheinung des Gemeinlebens bildet. Gegenüber
dieser Regelerscheinung stellen sich die Fälle der Unwirksamkeit des Rechts-
1) Diese opinio necessitatis ist das unterscheidende Merkmal des Rechts gegenüber der
Sitte, die übrigens mit dem Recht nahe verwandt ist. Vgl. Thon a. a. O. S. 250; Regels-
berger, Pandckten I S. 62 Nr. Il.
2) Das Gesetz wird befolgt, weil es Gesetz ist. Mit Recht sagt Thon in Grün hut’s Ztschr.
VI S. 249: „Was wäre denn auch das von den gesetzgebenden Organen ausgebende, von den
Gesetzesuntertanen, weil es Gesetz ist, befolgte Gebot, wenn es nicht Rechtsnorm sein soli?*