8 9. Die Staatsgrenzen. 305
II. Die Grenze zwischen zwei Staaten :ist als solche keine wahrnehm-
bare Linie; sie hat aber für die trigonometrische Bestimmung und sohin für
die Beantwortung der Frage des Grenzzuges, für Entscheidungen über den
Lauf der Grenze usw. Realität. Daß die Grenze als Linie zu denken ist,
gilt auch bezüglich der natürlichen Grenzen. Als solche werden Meere, Seen,
Flüsse, Bäche, Wüsten, Steppen, Berge, Hügel, Wälder usw. bezeichnet. In
Wahrheit handelt es sich aber auch hier nicht etwa darum, daß ein Gebirgs-
zug, ein Fluß usw. als Ganzes eine selbständige, weder dem einen noch dem
andern Staat gehörende Scheidewand bilde. Insofern ist heute jede natürliche
Grenze zugleich eine konventionelle. So bildet das Meer eine natürliche
Grenze; in Wahrheit ist es jedoch die Seegrenze des Küstenmeeres, d. i. jene
Linie, bis zu welcher das Meer von der Küste ans beherrscht werden kann
(bezw. die mit der Dreimeilengrenze gegebene Linie), die als Grenze des
Staatsgebiets gilt. Wenn ein Gebirgszug oder eine Hügelkette die
natürliche Grenze bildet, so läuft die Grenzlinie, falls nichts anderes bestimmt
wird, dem Gebirgskamm (cröte), d. h. also der Wasserscheide (ligne de faite,
ligne de demarcation oder de partage des eaux) entlang. Ein Fluß oder
Bach kann in der Art die Grenze bilden, daß die Grenzlinie mit einer der
Uferlinien zusammenfällt, so daß das Fluß- oder Bachbett dem einen der
Grenzstaaten gehört!),. Die Grenze kann bei schiffbaren Flüssen durch Ver-
trag auch an etwas Bewegliches (Veränderliches) geknüpft werden. So ist
durch Art. VI des Lüneviller Friedens vom Jahre 1801 der sogenannte Tal-
weg des Rheins als Grenze bestimmt worden. Der Talweg heißt die Linie, welche
die Schiffe stromabwärts befahren; diese Linie ist je nach dem Wasserstande ver-
änderlich. Der Grund dieser Einrichtung ist, jedem der angrenzenden Staaten
gleichberechtigten Genuß des Fahrwassers zu sichern. Der Talweg des Rheins
(oder die sog. Axe) ist noch beibehalten in den Grenzverträgen zwischen Baden
und Frankreich vom 5. April 1849 und 28. September 1860. Andere Beispiele
bietet Art. 4 der Wiener Kongreßakte bezüglich der Weichsel, neuestens der
Vertrag von San Stefano (Art. 1) bezüglich der Boiana. Beim Mangel solcher
konventioneller Grenzbestimmungen wird bei (nichtschiffbaren) Flüssen und
Bächen von altersher die Grenze der Mitte des Flußbettes entlang gezogen.
Auch diese Grenze ist veränderlich. Verläßt der Fluß sein Bett, so bleibt die
alte Grenze im verlassenen Flußbett bestehen; im Zweifel wird die Mitte des
Bettes als Grenze angesehen. Entsteht eine Insel im Flusse, die nur teilweise
in dem Wassergebiete eines der beiden Staaten sich befindet, so wird sie
entweder nach Maßgabe der Talweglinie oder der Mittellinie des Bettes geteilt;
diese Teilung bleibt dann auch für den Fall maßgebend, daß der Fluß sein
Bett verläßt. Bei Landseen, Brücken usw. wird die Mitte als feste Landes-
grenze angenommen. — Künstliche Grenzen sind Linien, die durch Über-
einkommen der angrenzenden Staaten durch bestimmte, zum Zwecke der
1, Eine derartige Grenzbestimmung beruht entweder auf einem Vertrag oder auf der
Tatsache, daß ein Staat das Landgebiet auf der einen Seite des Gewässers früher in Besitz
genommen bat, als seitens eines anderen Staats das Landgebiet jenseits des Gewässers seiner
Hoheit unterworfen wurde
Ullmann, Völkerrecht. 20