8 94. Das Objekt der Okkupation. 311
auf dem Gebiete des Völkerverkehrs, deren Eigenart innerhalb des Völker-
rechts von der Doktrin anerkannt werden muß. Die neueste Staatenpraxis
behandelt Privatpersonen als Subjekte des Gebietserwerbs; es muß daher der
Satz, daß nur Staaten Subjekte des Gebietserwerbs sein können, in der Doktrin
eine Modifikation erfahren: auch die von Privatpersonen begründete Gebiets-
hoheit genießt den gleichen völkerrechtlichen Schutz, wie die von Staaten
begründete!),, Die Tatsachen berechtigen aber nur zu dem Satze, daß auch
Privatpersonen Subjekte völkerrechtlicher Okkupation sein können; dadurch
wird der Satz, daß nur Staaten vollberechtigte Subjekte des Völkerrechts
sind, nicht berührt.
$ 94. 2%. Das Objekt der Okkupation. Das zu okkupierende Gebiet
darf nicht staatlicher Herrschaft unterworfen sein?2). Für die Frage der recht-
lichen Möglichkeit der Okkupation kommt es nur auf dieses negative Moment
an; die Forderung, daß der Okkupant aus dem Gebiete einen Nutzen müsse
ziehen können, ist durch nichts begründet. — Keinen Anlaß zu Zweifel bieten
die (allerdings seltenen) Fälle der Besitznahme staatenloser, weil überhaupt
unbewohnter Teile der Erdoberfläche und derelinquierter?) Gebiete. Als
staatenlos im völkerrechtlichen Sinne gelten aber auch bewohnte Gebiete;
Staatenlosigkeit als Voraussetzung der Okkupierbarkeit ist nicht identisch
mit dem Mangel irgend welcher Ordnung des Zusammenlebens. Zwischen
den primitiven Formen des Zusammenlebens und der staatlichen Organisation der
Kulturvölker liegt eine große Reihe von Abstufungen. So groß auch der
Abstand der gesellschaftlichen Zustände wilder Völker gegenüber der staat-
lichen Ordnung zivilisierter Völker ist, so kann doch darin für diese letzteren
niemals der Titel liegen, jene als rechtlos zu behandeln). Der Grundbesitz
seßhafter Stämme kann niemals Objekt privatrechtlicher Okkupation sein.
Indessen ist mit der Negierung der Herrenlosigkeit des Besitzes barbarischer
Stämme noch nicht die Frage beantwortet, ob das Gebiet solcher Völker
von völkerrechtlicher Okkupation ausgeschlossen ist. Im Zeitalter der
1) Adam a. a. 0. 30ff.; insbesondere auch mit Rücksicht auf abweichende Anschau-
ungen von Heimburger und Salomon.
2) Vgl. v. Martitz, R XIX 974, der den Ausdruck territorium nullius gebraucht. S.
neuestens Bornhak im Jahrb. d. intern. Vereinigung f. vergl. Rw. Ill, 38 ff.
3) Z. B. die Insel Mauritius; sie wurde 1712 von den Holländern derelinquiert und
1721 im Namen des Königs von Frankreich okkupiert. — Die Frage, ob ein Gebiet wirklich
derelingniert ist, kann streitig sein. In dem Streit zwischen Deutschland und Spanien über
die Karolinen-Inseln wurde deutscherseits behauptet, daß Spaniens niemals einen effektiven
Besitz (im Sinne des Art. 35 der Kongoakte) ausgeübt, bezw. auf den Besitz verzichtet habe.
Der Streit wurde durch Vermittlung Papst Leo’s XIII. der Erledigung (durch Vertrag vom
27. Dez. 1885) in dem Sinne zugeführt, daß die Souveränetät Spaniens anerkannt, dieses aber
gleichzeitig verpflichtet wurde, seine Herrschaft über die Insel effektiv zu gestalten und
deutsche Kaufleute zum Handelsbetrieb zuzulassen. — Durch Vertrag vom 12. Februar 1899
sind die Karolinen-Inseln an Deutschland übergegangen. Vgl. RG Vi, 202; NRG 2. Ser. XII,
283 sq. — Der Streit zwischen Großbritannien und Portugal wegen der Delagoa-Bai wurde
durch den Schiedsspruch des Präsidenten der französischen Republik vom 25. Juli 1875 bei-
gelegt. Vgl. Bonfils Nr. 545 auch über andore daselbst angeführte Streitfälle.
4) Vgl. G. Rolin-Jaequemyns, R XXI p. 168, 190.