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Die Frage, in welchem territorialen Umfange die Gebietshoheit existent ge-
worden ist, muß augenscheinlich derzeit im Zusammenhang mit dem wesent-
lichen Erfordernisse der gültigen Erwerbung der Gebietshoheit, nämlich der
Effektivität der Besitzergreifung, beantwortet werden. Es sind also nur jene
Gebietsteile der Gebietshoheit. unterworfen, über welche tatsächlich die
Herrschaft des Erwerbers ausgeübt wird. Die ältere Staatenpraxis, welche
das Erfordernis der Effektivität der Besitzergreifung nicht kennt, gelangte zu
verschiedenen Theorien, welche die maßlosen Ansprüche auf Gebiete, die in
ihrem Umfang durchaus unbestimmt waren, rechtfertigen sollten und in ein-
zelnen Fällen auch noch in der neuesten Zeit von einzelnen Mächten und
Vertretern der Doktrin festgehalten werden. So ist man vor allem davon
ausgegangen, daß die Okkupation des Mündungsgebietes eines Stromes die
Herrschaft über das ganze an dem Stromlauf belegene Gebiet begründe !).
Ein anderer Standpunkt ist der der Kontiguität (Right of contiguity), wo-
nach alles an das effektiv besetzte Gebiet anstoßende Gebiet der Gebietshoheit
des Okkupanten unterworfen sein soll; mindestens soll dem Okkupanten ein
Vorkaufsrecht vorbehalten bleiben. Ebenso vag wie diese beiden Theorien
ist diejenige, welche eine Mittellinie zwischen den Gebieten zweier benach-
barter Okkupanten als entscheidend erklärt. — Über den in neuerer Zeit in
Übung gekommenen Ausweg der Abgrenzung der Interessensphären zweier
Kolonialstaaten ist schon oben S. 303 gesprochen worden.
$ 97. Derivativer Erwerb der Gebietshoheit?). I. Diese Art des
Erwerbs der Staatsgebietshoheit umfaßt alle Fälle des Übergangs der
Gebietshoheit eines Staates auf einen anderen auf Grund einer
Willenseinigung des bisherigen Trägers der Gebietshoheit und
des Erwerbers. Der derivative Gebietserwerb beruht daher immer auf
einem Vertrage. Übertragungen der Gebietshoheit kommen im friedlichen
Rechtsverkehr der Völker vor oder sie sind das Ergebnis kriegerischer Vor-
gänge.. Nach heutigem Verfassungsrecht ist das Staatsgebiet unteilbar
und unveräußerlich; es ist der Disposition durch privatrechtliche Akte des
Souveräns entzogen. Abtretungen von Gebietsteilen können nur auf ver-
fassungsmäßigem Wege, und in den konstitutionellen Staaten nur unter Mit-
wirkung der zur Bildung des Gemeinwillens berufenen Faktoren erfolgen.
Die materiellen Motive solcher exzeptioneller Dispositionen über das Staats-
gebiet können nur in Gründen der Notwendigkeit und ernsten politischen
Interessen ihre Wurzel haben; die Zession eines Gebietsteils kann unter Um-
ständen das einzige Mittel sein, die Existenz des Staates zu sichern. Die
1) Standpunkt der Nordamerikanischen Union im Oregonstreit mit England, der im
Jahre 1346 durch einen Vertrag geschlichtet wurde, ferner in dem Grenzstreit mit Spanien
bezüglich Louisiana’s. Neuestens hat Portugal denselben Standpunkt mit Bezug auf die Kongo-
mündung für sich geltend gemacht.
2) Heffter-Geffcken $$ 69, 182; v. Holtzendorff, HH U 269 ff.; F. v. Martens
1355ff , Hartmann 175 ff.; Gareis $ 170; v. Liszt, $ 10; Heimburger, Erwerb der
Gebietshoheit, 110 ff.; Pradier-Fod6&r&, Traite II p. 819sq.; Despagnet, Cours p. 405 sq.;
Pi@delidvre, Pr&cis I p. 371 sq.; Rivier, Principes I, 197 sq.; Fiore II, $$ 860 aq.; Phil-
limore 1, $3 252 sq.; Halleck I, 154 sq.; Oppenheim I $$ 213 sq.