Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

89. Derivativer Erwerb der Gebietshoheit. 317 
  
setzung der Negierung der Rechtmäßigkeit und Möglichkeit historischer Rechts- 
titel und der Behauptung ausschließlicher Geltung einer Art natürlichen 
Rechts, das den Kampf mit dem historisch gewordenen, positiven Recht auf- 
nimmt und notwendig zu Konflikten führt, welche nur der Ausgang des 
Kampfes entscheiden kann. Die Schwäche dieses sog. Prinzips zeigt sich 
übrigens in dem Umstande, daß Vertreter desselben praktisch doch nicht 
umhin können, zur Wahrung des Besitzstandes die Berufung auf historische 
Rechtstitel in Anspruch zu nehmen; das Prinzip dient eben nur der schein- 
baren Rechtfertigung einer politischen Aktion, deren glückliches Ergebnis 
sofort unter den Schutz der sonst verworfenen historischen Rechtstitel gestellt 
wird. — Zumeist bringt man die Frage der Legitimität von Annexionen in 
Zusammenhang mit dem Rechte des Staates, seine Existenz zu verteidigen. 
Hier sind wieder zwei Ansichten auseinanderzuhalten. Die eine Ansicht bringt 
das Verteidigungsrecht des Staates in Zusammenhang mit der Erhaltung des 
Gleichgewichts der Staaten; jeder Staat ist berechtigt, Vorsichtsmaßregeln 
gegen die seine Existenz und den allgemeinen Frieden bedrohenden Expansions- 
bestrebungen eines anderen Staates zu ergreifen und der ihm drohenden Ge- 
fahr durch Angriff zuvorzukommen. Diese Ansicht berührt ein politisches 
Interesse nicht bloß des unmittelbar bedrohten Staates, sondern der Gesamt- 
heit der Staaten und die Frage der Intervention. Die andere Ansicht steht 
mit der Frage der justa causa belli im Zusammenhang: die Annexion eines 
Gebietsteils des ungerechten Angreifers ist rechtmäßig. (S. unten im Kriegsrecht.) 
IL Zueiner gültigen Gebietszession ist erforderlich ein Vertrag, 
in welchem der für die Übertragung und Übernahme der Gebietshoheit maß- 
gebende Wille der Beteiligten und die Willenseinigung zu rechtlich wirksamem 
Ausdruck gelangen. Die Invasio gibt zunächst nur faktischen Besitz des 
Landes. Als weiteres Erfordernis wird vielfach eine förmliche Tradition 
des Gebiets aufgestellt. In der Staatenpraxis sind förmliche Traditionen (in 
solenner Form) vorgekommen. Die Notwendigkeit einer Besitzübertragung 
entfällt, wenn durch Friedensschluß die Zession eines von dem Erwerber durch 
kriegerische Okkupation besetzten Landes bewirkt wird. Indessen wird schon 
von Grotius die Tradition nicht für erforderlich gehalten und seither diese 
Ansicht vielfach vertreten!). In der Tat ist die Tradition nicht absolut not- 
wendig zum Erwerb der Gebietshoheit; den Grund davon kann man darin er- 
blicken, daß die Auswechslung der Vertragsinstrumente eine Investitur im 
Sinne des Deutschen Rechts bildet. Übrigens kann man dafür auch noch 
anführen, daß, wenn ein Staat einem anderen Staat einen Landstrich zediert, 
damit genug geschehen ist, um die von den Beteiligten beabsichtigte rechtliche 
Wirkung herbeizuführen, wenn der bisherige Träger der Gebietshoheit erklärt, 
daß er das Gebiet zediert haben will, weil eine Kollission mit Rechten Dritter, 
die im privatrechtlichen Verkehr leicht möglich ist, im Völkerrecht nicht so 
leicht vorkommen kann 2). Hiernach ist die Gültigkeit der Zession keines- 
  
1) v. Holtzendorf, HH II 273; Rivier, Lehrb. S. 150. Oppenheim I, & 217. 
2) Ein Beispiel aus der neueren Praxis bestätigt das Gesagte. Napoleon II. hatte auf 
Grund der Präliminarien von Villafranca bezw. des Züricher Vertrages vom 16. Okt. (10. No-
	        
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