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im Sinne der heutigen Staatsidee und ihrer Konsequenzen erfolgen. Dies
fehlt aber der Plebiszittheorie. Diese wurzelt in der falschen Vertragstheorie
und nicht, wie vielfach behauptet wurde, in den Konsequenzeu des Parlamen-
tarismus oder konstitutioneller Einrichtungen überhaupt, denn auch im konsti-
tutionellen Staat gilt nur das als Gemeinwille und legitime Aktion des Staates,
was die verfassungsmäßigen Organe beschließen und tun. Der Wille der
Einzelnen kann nicht entscheiden. Das Recht des Volkes kann eben nur
durch die verfassungsmäßige Repräsentanz zum Ausdruck und zur Geltung
kommen. Die Unhaltbarkeit der Plebiszittheorie tritt übrigens noch deutlicher
vor Augen, wenn man ihre technische Durchführbarkeit prüft. Abgesehen
davon bewirkt aber die Plebiszittheorie vielfach in ihrer praktischen Aus-
führung auch eine Gefahr für die persönliche Freiheit. — Dagegen beruht
das Optionsinstitut auf juristisch zutreffenden Grundgedanken; der praktischen
Verwertung desselben stellen sich keine Schwierigkeiten entgegen. Der Grund-
gedanke der Optionsbefugnis verdankt seine Anerkennung dem 18. Jahrhundert !).
Das Wesen des Optionsinstituts liegt darin, daß gegenüber der unabänderlichen
und vom Willen der Einzelnen unabhängigen Tatsache der Gebietszession dem
Einzelnen die Möglichkeit offen gelassen wird, sein Selbstbestimmungsrecht
bezüglich der Staatsangehörigkeit geltend zu machen. Die Not, welche in der
gewaltsamen Eroberung oder der ihr gleich wirkenden friedlichen Zession für
die Individuen des dismembrierten Staatsgebietes liegt, findet in dem Options-
institute ihre Korrektur. Dieses an die menschliche Freiheit anknüpfende
Recht der Persönlichkeit trat ziemlich spät in das Bewußtsein der Staaten-
gesellschaft, nach mancherlei Schwankungen trat es in der neuesten Zeit 2) auf,
um in der Praxis der Staaten dauernde Stellung zu gewinnen.
$ 99. Beschränkungen der Gebietshoheit. Staatsservituten?). I. Der
Begriff der Servitut gehört dem Privatrecht an, er spielt aber auch im Staats-
recht und Völkerrecht eine Rolle, publizistische Doktrin und Staatenpraxis
operieren mit diesem Begriffe im Hinblick auf singuläre Rechtsverhältnisse der
Staaten unter einander. Wird nun einerseits mit diesem Begriffe als einem
feststehenden operiert, so gehen doch die Meinungen über das Wesen der
Staatsservitut vielfach auseinander; es wird auch (aus juristischen und poli-
tischen Gränden) die Zulässigkeit des Servitutsrechts im Völkerrecht in Abrede
1) Vgl. Stoerk a. a. O. (Abschn. I u. II) über die Geschichte des Optionsinstituts und der
Plebiszittheorie.
2) Züricher Frieden 1859, Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864, Frankfurter Frieden
vom 12. Mai 1871 und Zusatzvertrag vom 11. Dezember desselben Jahres usw.
9) Hauptwerk: Clauß, Die Lehre von den Staatsdienstbarkeiten (1894). Heffter-
Geffcken$ 43; v. Holtzendorff, HHI S. 242ff., Bulmorincq, H 289ff.; F. v. Martens
I S. 364ff.; Hartmann 179ff.; Gareis $ 71; Lewis in v. Holtzendorffs Rechtslex. e. v.
„Staatsservituten“ ; Brie in v. Stongel’s Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts e. v.
„Staatsservituten“; Rivier, Lehrb. 8. 192ff.; v. Liszt, $$ 8, 19. — Laband, Staatsrecht I
(2. Aufl.) S. 186; Hänel, Staatsrecht I S. 538; Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbin-
dungen S. 54ff.; Phillimore, I, $8$ 281 sq.; Travers Twiss, I, $ 245; Oppenheim I],
$$ 203 sq.; Pradier-Fodör&, II, Nr. 834 sq.; Bonfils, Nr. 340 sq.; Rivier, Principes I,
296 sq.; Fiore I, 8$ 380 sq.; Fabres, Des servitudes dans le droit international (1901).