346 Sechstes Buch. Rechtliche Stellung der Individuen. 8 107.
Staat handelt, so kann im Falle von Rechtsverweigerung nur der Heimatsstaat
des Verletzten das der Völkerrechtsnorm gemäße Verhalten fordern bezw. er-
zwingen. Im Verkehr zivilisierter Staaten ist heute die völkerrechtliche Pflicht
zur staatsrechtlichen Anerkennung der Rechtssubjektivität der Fremden selbst-
verständlich; dagegen enthalten ältere und neuere Verträge, durch die inter-
nationale Beziehungen zwischen zwei Staaten angeknüpft werden, eine aus-
drückliche Stipulierung jener Pflicht durch die gegenseitige Zusage des Schutzes
der Person und des Eigentums der beiderseitigen Untertanen. ')
Nach dem Gesagten können die Individuen nicht völkerrechtliche Rechts-
subjekte sein; ebensowenig können sie völkerrechtliche Pflichtsubjekte sein.
Völkerrechtliche Pflichtsubjekte sind auch dann, wenn es sich um Leistungen
und Pflichterfüllung der Individuen handelt, die Staaten selbst; für die Individuen
liegt der Verpfiichtungsgrund in dem staatsrechtlichen Befehl, den der Staat
an seine Untertanen in Erfüllung betreffender völkerrechtlicher Verpflichtungen
zu erlassen hat.
Im Gegensatze zu dieser durch die Staatsangehörigkeit dem Individuum
vermittelten Stellung im Völkerrecht vindizieren einzelne Schriftsteller dem
Menschen ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu einem Staate allgemeine
Menschenrechte, die das Völkerrecht gewährleiste.?2) Man spricht insbesondere
von einem natürlichen, unentziehbaren Recht des Menschen auf Freiheit und
dem diesem Rechte entsprechenden Schutz gegen Verletzung durch andere
Personen und den Staat, von dem Schutz der Freizügigkeit im Gebiete der
Staaten der internationalen Gemeinschaft usw. Diese Ansicht wurzelt in ethischer
Beziehung in den sittlichen Anschauungen der zivilisierten christlichen Völker,
sie hängt auclı zweifellos mit jenen Anschauungen zusammen, auf denen in
letzter Reihe das Völkerrecht selbst beruht; in juristischer Beziehung geht
sie von jener naturrechtlichen Anschauung aus, nach der das natürliche subjektive
Recht der Person den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Konstruktion
bildet. Allein diese Seite der Ansicht steht im Widerspruch mit den realen
Voraussetzungen der Entstehung subjektiver Rechte, nämlich der Stellung des
Individuums in einer Rechtsgemeinschaft und der Anerkennung von Normen
des Zusammenlebens; was aber jene sittlichen Anschauungen anlangt, so haben
diese derzeit allerdings in der nationalen Rechtsordnung zivilisierter Staaten
zur Anerkennung der Freiheit der Individuen geführt; aber die internationale
Gemeinschaft vermochte noch nicht durch völkerrechtliche Normen den Zustand
der persönlichen Freiheit des Menschen zu einem allgemein gültigen zu gestalten.
So hat die Aktion gegen die Sklaverei zur Anerkennung eines subjektiven
Rechts jedes Menschen auf Freiheit von Sklaverei nicht geführt;*) sie beschränkte
sich auf die Schaffung von Garantien der persönlichen Freiheit durch das Verbot
des Sklavenhandels, das aber nur die an betreffenden Staatsverträgen beteiligten
Staaten verpflichtet.
1) Vgl. Heilborn, System $. 74, wo richtig hervorgehoben ist, daß cs korrekter wäre,
von „Schutz der Person und ihrer Rechte“ zu sprechen. Art. 35 der Kongvakte spricht
von dem Schutz erworbener Rechte. 2) Vgl. z. B. Bluntschli, Völkerrecht 3 23,
360 ff.; F. v. Martens I S. 334 ff. 3) Vgl. neuestens Heilborn, System S. 84 ff.