Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

8 110. Erwerb der Staatsangehörigkeit. 349 
 — (em 
  
der Staatsangehörigkeit bei der Geburt. Sieht man von den Aus- 
nahmefällen der Heimatlosigkeit ab, so ist im Bereich der staatlich organisierten 
Verbände für jeden Menschen die Staatsangehörigkeit bei der Geburt be- 
gründet und zwar entweder durch Abstammung (Filiation, jus sanguinis), 
so daß eheliche Kinder der Staatsangehörigkeit des Vaters, uneheliche jener 
der Mutter folgen, oder es entscheidet die Geburt im Inlande (jus soli, 
Prinzip der Territorialität). Zur ausschließlichen Geltung ist das jus sanguinis 
nur in Deutschland, Österreich, Ungarn, Schweden und in den deutschen 
Kantonen der Schweiz gelangt; in anderen Ländern ist neben dem jus sanguinis 
auch das jus soli (in verschiedenem Umfang) anerkannt !): der im Lande Ge- 
borene erwirbt die Staatsangehörigkeit ipso jure und definitiv?) oder er kann 
nach erlangter Großjährigkeit für die Staatsangehörigkeit seiner Eltern optieren, 
oder es wird ihm die Staatsangehörigkeit belassen, aber zugleich das Recht 
auf Verleihung der Staatsangehörigkeit im Geburtslande vorbehalten. In Eng- 
land wurde erst durch die Naturalisationsakte vom 12. Mai 1870 eine Modi- 
fikation durch Statuierung eines Verzichtsrechts der in England geborenen 
Kinder von Ausländern auf die englische Staatsangehörigkeit geschaffen. In 
Nordamerika behauptete das jus soli ausschließliche Geltung bis zu dem Ge- 
setze vom 10. Februar 1855. In Frankreich verließ der Code eivil das bis 
dahin ausschließlich maßgebende jus soli?\). Dem in Frankreich geborenen 
Kinde eines fremden Vaters wurde das Recht, die französische Staatsangehörig- 
keit (unter gewissen Voraussetzungen) zu reklamieren, eingeräumt. Die Ge- 
setze von 1851 und 1874 hatten das Reklamationsrecht französischer Staats- 
angehörigkeit in ein Recht der Option für die angestammte Heimat für den 
Fall verwandelt, daß die Geburt auf französischem Boden sich in zwei Gene- 
rationen wiederholte). Populationspolitische Erwägungen haben zur Aufnahme 
eines neuen Rechtssatzes im Art. 8 Abs. 3 Code civil geführt; hiernach ist 
Franzose tout individu ne en France d’un &tranger qui lui-m&me y est ne?°). 
Populationspolitische Gesichtspunkte sind für die ausschließliche Geltung des 
jus soli in den südamerikanischen Staaten maßgebend. 
Jedenfalls gebührt dem Abstammungsprinzip gegenüber dem jus soli der 
Vorzug, denn es entspricht der natürlichen und ethischen Bedeutung des 
Familienverbands für das Volk und der Organisation der Individuen und 
Familien in dem politischen Volksverband. Allein während nach dem jus soli 
die Tatsache der Geburt in dem Lande eine feste Grundlage für die Be- 
  
nalite & I’Institut de droit international (1897); Hall, $$ 67 sq.; Westlake I 213sq.; Hal- 
leck, I, 402 sq.; Dicey, Conflict of Laws (1896) 173 sq.; Oppenheim I, 8$ 297 sq. 
1) Vgl. Näheres bei v. Martitz, Annalen 1$75, 1133. 
2) Partikularrechtliche Modifikation dieses Grundsatzes ist die Forderung, daß die 
Eltern in Lande domiziliert oder daß sie gleichfalls hier geboren seien (v. Martitz a.a.0... 
3) Die ursprüngliche Fassung des Art. 9 Code civil lautete noch im Sinne des alten 
Rechts : Tout individu n& en France est Francais. 
4) Siche v. Martitz, Annalen 1875, 1134. Siche daselbst auch die Angaben über die 
Verbreitung des Reklamationsrechts in den Ländern französischen Rechts. 
5) Das Gesetz vom 22. Juli 1893 modifiziert die Wirkungen dicses Grundsatzes. Näh. 
bei Weiss, Manuel 245.
	        
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