354 Sechstes Buch. Rechtliche Stellung der Individuen. 8 110.
Lübeck und San Domingo) geltende Grundsatz, nach dem die Einbürgerung
von dem Nachweis der Ausbürgerung abhängig gemacht ist. Andere Staaten
bringen diesen Grundsatz auf konventionellem Wege zur Anwendung, so
Deutschland und Oesterreich auf Grund eines Übereinkommens vom Jahre 1876,
Oesterreich und Ungarn (Erlasse des Ministeriums des Innern vom 7. De-
zember 1870 und vom 10. Januar 1871), Oesterreich und Serbien (Vertrag vom
16. Juni 1882), Deutschland und die Türkei (Zirkularschreiben der deutschen
Reichsregierung an die Bundesregierungen vom 11. Juli 1884), Deutschland
und Persien (Vertrag vom 11. Juni 1873, RGBl 1874, S. 351 ff.), Deutschland
und Marokko (Vertrag vom 3. Juli 1880, RGBl 1881, S. 103 ff... Andere
Staaten gebrauchen die Vorsicht, daß die von ihnen erteilte Naturalisation
gegenüber dem Heimatsstaate unwirksam sein soll),
Das Interesse an der Vermeidung anomaler Verkehrsakte und der damit ver-
bundenen mehrfachen Staatsangehörigkeit gewann in der Neuzeit für jene Länder
erhöhte Bedeutung, die an der Auswanderung und Einwanderung besonders be-
teiligt sind, nämlich England und Deutschland einerseits, und die Vereinigten
Staaten von Nordamerika anderseits. Die Divergenz der nationalen Gesetz-
gebungen dieser Länder über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit führte
zu Konflikten in den zahlreichen Fällen der Einbürgerung von Personen, die
ihren staatsrechtlichen Verbindlichkeiten im Heimatland nicht nachgekommen
waren, in der Nordamerikanischen Union. Die Konflikte waren im Hinblick auf
den die Selbständigkeit anderer Staaten ignorierenden Standpunkt der Union, daß
die von ihr erteilte Naturalisation jede frübere Staatsangehörigkeit vernichte,
unvermeidlich. Im Jahre 1812 hatdie hier in Frage stehende Kontroverse mittelbar
zu einem Kriege zwischen England und der Union geführt. Seit der Beendigung
des Krieges durch den Frieden zu Gent 1814 ergaben sich neue Konflikte bei der
Bekämpfung der irischen Aufstandsversuche, indem England nach wie vor den
Standpunkt der Unauflöslichkeit des englischen Staatsverbandes gegenüber
seinen in der Union naturalisierten Untertanen zur Geltung brachte. Die
definitive Lösung der Konflikte zwischen diesen beiden Staaten erfolgte auf
Grund der provisorischen Vereinbarungen vom 9. Oktober 1868 durch die
englische Naturalisationsakte vom 13. Mai 1870; in Sect. 6 dieses Gesetzes
hat England für sein ganzes Gebiet und alle seine Untertanen das französische
Prinzip angenommen. — In derselben Zeit fanden die diplomatischen Kontro-
versen Preußens mit der Union in der konventionellen Regelung der Angelegen-
heit ihren Abschluß?). Weitläufige Verhandlungen, die während des Sezessions-
krieges eine Unterbrechung gefunden hatten, endeten mit dem Abschluß des
sog. Bancroft-)Vertrags vom 22. Februar 18683). In Art. I wird anerkannt,
daß Angehörige des Norddeutschen Bundes, welche naturalisierte Staats-
angehörige der Union geworden sind, und fünf Jahre lang ununterbrochen in
der Union zugebracht haben, von dem Norddeuschen Bunde als amerikanische
Staatsangehörige erachtet und als solche behandelt werden sollen. Die bloße
1) So England in seiner Praxis, und seit 1$70 auf Grund der Naturalisationsakte. ‚Vgl.
“ Martitz, Annalen $09, 810. 2) Siehe hierüber insbesondere v. Martitz, Annalen
275, 8. 813 ff. 3) RGBI S. 228.