86. Die Völkerrechtswissenschaft. 31
u. a. m. — Die Entwicklung des Verkehrs, die immer reicher sich gestaltende
Verwertung der Staatenverträge zum Zwecke der Regelung der politischen
Beziehungen der zivilisierten Völker und die Zugänglichkeit des konventionellen
und sonstigen urkundlichen Quellenmaterials führten alsbald auch zu einer
anderweiten Auffassung der wissenschaftlichen Aufgabe gegenüber dem Völker-
recht. Indessen, die volle und einzig zutreffende Erkenntnis des Wesens des
Rechts und der damit auf das engste verbundenen Anforderung an die Methode
der Jurisprudenz war jener Epoche noch verschlossen. So erklärt sich die
in gewissem Sinne durchaus einseitige und in den Resultaten wenig be-
friedigende Richtung des nunmehr zur Geltung gekommenen Positivismus.
Die wissenschaftliche Erkenntnis nahm allerdings lediglich das durch Ge-
wohnheit und Verträge geschaffene, also objektiv gegebene Recht zum al-
leinigen Ausgangspunkt. Allein diese neue positivistische Richtung litt an
mancher Übertreibung, Hatte die naturrechtliche Schule dem positiven Recht
keine oder nur eine untergeordnete Rolle eingeräumt, und — wie dies bei
Grotius und seinen Nachfolgern hervortrat — das positive Recht nur zum
Zwecke bekräftigender Argumentation für ihre eigenen spekulativen Kon-
struktionen verwertet, so fehlte hinwieder der positivistischen Richtung viel-
fach das Interesse an der Verwertung des historisch gewordenen Rechts für
die Formulierung der obersten Prinzipien des Völkerrechts, an dem Nachweis
des Zusammenhangs der pragmatischen Leistungen der zivilisierten Staaten
in der Ordnung ihrer Beziehungen mit dem jeweiligen Zustande ihrer Kultur
und den in den verschiedenen Perioden hervortretenden neuen Kulturauf-
gaben; auch begab sich diese Richtung (in ihrer einseitigsten, gleichsam
orthodoxen Ausbildung) des kritischen Urteils über die gegebenen Rechtszu-
stände und Einrichtungen, wie auch jeder fruchtbaren Anregung, welche
die Wissenschaft gerade auf einem noch so sehr im Fluße befindlichen
Rechtsgebiete dem praktischen Staatsleben zu geben berufen ist. Diese
Richtung tritt vornehmlich im 18. Jahrhundert auf den Plan — abge-
sehen von einigen Schriftstellern aus dem Ende des 17. Jahrhunderts, wie
Rachel (De jure naturae et gentium, 1676) und Textor (Synopsis juris
gentium, 1680). Die Hauptvertreter der positivistischen Richtung im 18.
Jahrhundert sind der Holländer Kornelis van Bynkershoek (1673—1743).
De dominio maris (1702), De foro legatorum (1721), Quaestionum juris publici
libri duo (1737), ferner Johann Jakob Moser (1701—1783), Grundsätze
des jetzt üblichen Völkerrechts in Friedenszeiten (1750), Grundsätze des jetzt
üblichen Völkerrechts in Kriegszeiten (1752), Versuch des neuesten europäischen.
Völkerrechts in Friedens- und Kriegszeiten (1777—1780), endlich Georg
Friedrich von Martens (1756—1821), Precis du droit des gens moderne
de l’Europe (1789), ins Englische 1795 übersetzt, in französischer Sprache
von Verg& 1864 neu herausgegeben. Martens ist auch der Begründer des
bis jetzt erscheinenden „Recueil des Traites“. Eigentümlich ist die Stellung,
die Martens dem natürlichen Völkerrecht gegenüber einnimmt: er ignoriert
es nicht — wie Moser —, ist vielmehr geneigt, Lücken des positiven Völker-
rechts mit Naturrecht auszufüllen.