32 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. 86.
IV. Das Hervortreten der positivistischen Richtung bedeutete keineswegs
eine Überwindung der naturrechtlichen Grundanschauung. Der Geist der
Zeit, der Zustand des positiven Rechts und das Ansehen der Grotianischen
Richtung sicherten dem natürlichen Völkerrecht im Bereich der dualistischen
Anschauungsweise Geltung im 17. und 18. Jahrhundert. Die Hauptvertreter
dieser Richtung in jener Epoche sind Christian Wolff (1679—1754) — Jus
gentium methodo scientifica pertractatum (1749), Institutiones juris naturae et
gentium (1750) und Emerich von Vattel (1714—1767) — Le droit des
gens ou principes de la loi naturelle appliques & la conduite et aux affaires
des Nations et des Souverains 1758, seither in zahlreichen neuen Ausgaben
verbreitet; englische Übersetzung von Chitty 1834. Vattel besaß nament-
lich in diplomatischen Kreisen bis in die neuere Zeit ein unbestrittenes An-
sehen. — Der Standpunkt Wolffs operiert mit der Idee einer Civitas gentium
maxima. Den dualistischen Standpunkt des Grotius modifiziert Wolff unter
dem Einfluß seiner Civitas maxima, indem er zu einer vierfachen Sonderung
des Völkerrechts gelangt: er unterscheidet das jus naturale, voluntarium und
stellt beiden das Gewohnheits- und Vertragsrecht gegenüber. Das jus volun-
tarium ist nicht identisch mit dem j. v. des Grotius; Träger des j. v. im
Wolffschen Sinne ist eben jene civitas gentium maxima.
V. Diese verschiedenen Richtungen der Völkerrechtswissenschaft ragen
noch in das 19. Jahrhundert herein. Die spekulative Richtung fand neben
der streng positivistischen und der dualistischen in der Entwicklung der
neueren philosophischen Systeme neue Nahrung. Allein der Kampf der
historischen Schule gegen das Naturrecht wirkte allmählich läuternd auf die
Anschauungen über das Wesen alles Rechts und führte zum siegreichen Durch-
bruch der Überzeugung, daß es nur ein Recht, nämlich positives Recht geben
könne. Der Entwicklungsprozeß vollzog sich aber aus naheliegenden Gründen
nur allmählich. Naturrechtlicher Einfluß äußert sich noch bei einzelnen
neueren Schriftstellern. So ist z. B. noch der Schotte Lorimer, The
Institutes of International Law, 1883—1884 (Bd. I) überzeugter Vertreter der
naturrechtlichen Anschauung. Bonfils No. 40 findet das natürliche oder rationelle
Völkerrecht auf alle Staaten und auf alle Völker anwendbar! Eine andere,
für die Behandlung des positiven Völkerrechts weniger maßgebende Stellung
zum natürlichen Völkerrecht nehmen z. B. Martens, Klüber, Droit des gens
moderne 1819 und Heffter, Das europäische Völkerrecht 1844 ein; unter den
englischen Schriftstellern Phillimore, Halleck. Bluntschlis Völkerrecht
als Reclhtsbuch enthält nicht bloß positives Recht; die in Paragraphen formu-
lierten Rechtssätze sind vielfach bloße Ausführungen de lege ferenda, obwohl
sie äußerlich nicht als solche hervortreten. Naturrechtlichen Gesichtspunkten
begegnet man auch bei einigen Mitarbeitern an dem umfassenden Handbuclhı
des Völkerrechts von v. Holtzendorff.
VI. Die Gegenwart charakterisiert das Streben, auf der naturgemäßen
(rundlage aller Jurisprudenz — dem positiven Recht — auch die Völker-
rechtswissenschaft aufzubauen und das geltende Völkerrecht zu einem syste-
matischen Ganzen zu gestalten; die Erscheinungen des internationalen Lebens