$ 127. Die Auslieferung. 393
lichen Instituts'). Das heutige Auslieferungsrecht berulit auf einem ein-
heitlichen, mit der Idee der internationalen Gemeinschaft auf das engste zu-
sammenhängenden Grundgedanken und steht im Dienste einer bestimmten
staatlichen Funktion — der Strafrechtspflege —, während in früherer Zeit
Auslieferung aus den verschiedensten Motiven gehandhabt wurde und im
Dienste verschiedener Interessen stand; sie erfolzte außer zum Zwecke der
Verfolgung und Bestrafung flüchtiger Verbrecher und Sträflinge auch aus
politischen Motiven, ferner zur Sicherung der Interessen des Seeverkehrs
(durch Auslieferung entlaufener Seeleute oder Kriegsschiffdeserteure) oder zur
Sicherung der Interessen des Militärdienstes (durch Auslieferung von Militär-
deserteuren); ferner erfolgte Auslieferung leibeigener und gutsuntertäniger
Personen, ja selbst von Sklaven2. Während sich die neueste Gestaltung des
Auslieferungsrechts und der Auslieferungspflicht gerade durch eine spezifische
Einschränkung infolge des grundsätzlichen Ausschlusses politischer Delikte
charakterisiert, betrafen die im Mittelalter und später vorkommenden Fälle
vornehmlich die Auslieferung flüchtiger Untertanen im Falle der Anschuldi-
gung oder Verurteilung wegen politischer Verbrechen. Man behält
heute bei der Auslieferung als völkerrechtlichem Rechtsinstitut gleichzeitig
das konkurrierende Interesse des Auszuliefeınden im Auge, soweit es in dem
heutigen Fremdenrecht zur Anerkennung gekommen ist. Während früher
politische Zweckmäßigkeitsrücksichten bei der Gewälirung oder Verweigerung
der Auslieferung entscheidend waren, anerkennt das heutige Recht die Kon-
sequenzen pflichtmäßigen Asylschutzes seitens des Aufenthaltstaats und zieht
der Auslieferung bestimmte rechtliche Grenzen. Eine von der heutigen Auf-
fassung des Wesens der Auslieferung verschiedene Beliandlung ist auch jene,
welche die italienischen Juristen des Mittelalters ausgebildet hatten, und die
für die Verhältnisse im alten deutschen Reich maßgebende Bedeutung erlangte.
Die Auslieferung an den judex delieti commissi wurde auf dem Boden einer
gemeinsamen Rechtsordnung der christlichen Staaten prinzipiell anerkannt
und zwar als Ausfluß der potestas criminalis. Es handelte sich also wesentlich
un eine Frage der Kompetenz; die Auslieferung erschien als ein Gegenstand
des Prozeßrechts; sie war ebenso wie die Verhängung der Strafe ein richter-
licher Akt, nicht Rechtshilfe. Allein diese prozeßrechtliche Behandlung der
Auslieferung muß sofort versagen, wenn die staatsrechtliche Voraussetzung
(wie sie z. B. im alten deutschen Reich bezüglich des gegenseitigen Verhält-
nisses der Territorien gegeben war) fehlt. Die prozeßrechtliche Behandlung
der Auslieferung für den Auslieferungsverkehr von gegenseitig unabhängigen,
durch keinerlei staatsrechtliches Band mit einander verbundenen Staaten zu
fordern, bedeutet die Fiktion einer föderativen Einigung der völkerrechtlich
unabhängigen und gleichberechtigten Staaten.
1) Über die Geschichte der Auslieferung siche den I. Band des zit. Werkes von Ber-
nard,sodanpn Lammasch, Auslieferungspflicht undin HH III S. 457 ff., neuestens v. Martitz,
Rechtshilfe 1 S. 47, 158 ff., 441 ff., insbesondere den der ncucsten Entwicklung, nämlich seit
dem belgischen Auslieferungsgesetz vom Jahre 1853 gewidmeten Il. Band des Werkes.
2, Vgl. v. Martitz, Rechtshilfe I 54 Aum. 11, 155 ff., vgl. mit 412.