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belgischen Gesetz vom 22. März 1856 und später in den meisten Verträgen
zur Aufnahme der sogenannten Attentatsklausel!) geführt; hiernach sollen
Mord und Mordversuch gegen den Souverän oder ein Mitglied einer souveränen
Familie nicht als politische Delikte angesehen werden.2) — Über die Frage,
ob ein betreffiendes Verbrechen ein politisches sei, entscheidet der um die
Auslieferung ersuchte Staat, wobei dem freien Ermessen in der Beurteilung
des Charakters der Handlung ein weiter Spielraum offengelassen werden muß.
— Unter dem Eindruck zahlreicher Attentate in der Neuzeit vollzog sich eine
Reaktion in einigen Verträgen, welche Rußland abgeschlossen hat. So in
den Verträgen mit Preußen und Bayern (1869 und 1885), in denen die
Auslieferung nicht bloß wegen Verbrechen gegen Leib und Leben des Souveräns
sondern auch gegen die Ehre (Majestätsbeleidigung) stipuliert wurde. In dem
Vertrage mit Spanien (1888) wird das Prinzip der Nichtauslieferung über-
haupt fallen gelassen.
V. Im Hinblick auf die in neuester Zeit sich häufenden Angriffe auf die
Grundlagen der heutigen Organisation der Gesellschaft und deren wichtigste
Kulturinteressen ist das Bedürfnis wirksamer Bekämpfung dieser antisozialen,
von den politischen Delikten wohl zu unterscheidenden Verbrechen, hervor-
getreten. Solche Verbrechen sollten allemal der Auslieferung unterworfen sein.?)
$ 130. Fortsetzung. Nichtauslieferung von Staatsangehörigen. Straf-
kompetenz des ersuchenden Staates. Auslieferungsverfahren. Es gilt
heute die Regel der Nichtauslieferung der eigenen Staatsangehörigen;*) sie
steht indessen nicht in Einklang mit den Grundlagen und Voraussetzungen der
Auslieferungsidee und mit den Bedingungen einer wirksamen Strafverfolgung;
in Fällen der Mitschuld sind überdies mehrfache Prozesse in verschiedenen
Ländern notwendig. England und Amerika liefern ihre eigenen Untertanen
aus. — Es gilt ferner die Regel, daß nur den: zur Bestrafung des betreffenden
Delikts zuständigen Staate ausgeliefert wird. Zuständig ist regelmäßig der
Staat, in dessen Gebiet das Delikt begangen ist.
Die Auslieferung wird regelmäßig auf diplomatischem Wege eingeleitet.
Die Entscheidung über die Auslieferungsfrage ist Sache der obersten Staats-
organe. Die mit der Ausführung des Auslieferungsbegehrens verknüpften
Eingriffe in die persönliche Freiheit des Auszuliefernden erfordern die Mit-
1) Anlaß für die belgische Attentatsklausel gab das Attentat Jules Jacquin’s auf
Napoleon Ill. 1854. — Mottgenberg, Die Attentatsklausel i. d. Ausl. R. (1906).
2) England, Italien und die Schweiz hatten die Attentatsklausel nicht angenommen.
Anderweite Versuche, die Frage der relativen polischen Delikte zu regeln, wurden von Ruß-
land 1881 und der Schweiz 1592 unternommen. In Art. 10 des schweiz. Auslieferungsgesetzes
ist die Nichtauslieferung wegen politischer Delikte als Grundsatz anerkannt; Auslieferung
soll aber auch dann stattfinden, wenn die Handlung vorwiegend den Charakter eines gemeinen
Verbrechens an sich trägt. Die Entscheidung dieser Frage ist dem Bundesgericht vor-
‚behalten, das den individuellen Umständen des einzelnen Falles gerecht werden kann. Darin,
sowie in dem Umstand, daß ein Gericht diese Vorfrage zu entscheiden hat, wird der Vorzug
dieses Systems gegenüber der belg. Attentatsklausel erkannt. So neuestens Oppenheim |,
88 337 u. 339. 3) A. Rolin, La röpression des delits anarchistes in der R XXVI 1253q.
4) z. B. $ 9 des deutschen RStrGB Art. 8 der belgischen Verfassung.